Das beschreibt durchaus die Wirkung, die Issa auf Menschen ausübte. Sie hatte eine Macht, über die die Machthabenden dieser Welt nicht verfügen. Für mich war Issa eine Erinnerung daran, worum es im Leben eigentlich geht. Das scheinen große Worte zu sein – „worum es eigentlich geht“; damit möchte ich jedoch ausdrücken, dass ich nicht glaube, dass es im Leben darum geht, viel zu eilen und viel zu erreichen und viel zu leisten. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“, hatte Erich Kästner einmal geschrieben; es gilt aber auch: „Es gibt nichts Gutes, außer man lässt es zu“ – und um das Gute zuzulassen, muss man dem Guten Raum geben, und das heißt auch: sich zurücknehmen.
Issa eröffnete Räume für das Gute; ihre Eltern hatten erfahren, was es bedeutet, ein Kind zu lieben, das man gleichzeitig halten und loslassen muss; man muss dem Kind Halt geben, Stabilität, Unterstützung – und das alles im Wissen, dass jeder Tag der letzte Tag sein könnte. „Wir kennen nicht den Tag und nicht die Stunde“, sagte Felicia in Anspielung auf ein Wort Jesu im Matthäusevangelium (25,13) zu mir. Mit dieser Einstellung war Issas Familie gezwungen, im Augenblick zu leben, Tag für Tag, jeden Tag als besonderen Tag zu feiern.
„Issa bleibt ein Mysterium“, sagten die Eltern, ihr Leben hat etwas Kraftvolles wie Unergründliches, „sie ist ein Geschenk“. Immer wieder äußerte Felicia diesen Gedanken: Issa ist ein Mysterium, das wir nicht verstehen, sie ist ein Geschenk, schöner als alles, was sie sich je als Geschenk hätte vorstellen können oder träumen lassen. Ein Geschenk, das große Schmerzen verursacht: den Schmerz, Issa leiden zu sehen, den Schmerz, Issa nicht heilen zu können, den Schmerz, Issa zu verlieren; den Schmerz auch, Issas Geschwister leiden zu sehen. Sophie, Lucy und Seamus litten nicht nur mit ihrer Schwester mit, sie konnten auch weder in den Sommerferien 2013, noch zu Thanksgiving, noch zu Weihnachten irgendwo hinfahren. „Das ist nicht fair!“ – „Ja“, sagten die Eltern, „es ist nicht fair, aber so ist es, wenn man einen Menschen liebt und Opfer bringen muss.“
„Das ist nicht fair!“ – dieser Satz kann auf vieles, was Issas Leben ausmacht, angewandt werden. Ihr ganzes Leben war nicht fair; es war nicht fair, dass sie mit Trisomie 18 auf die Welt kam, es war nicht fair, dass sie Schmerzen hatte, es war nicht fair, dass sie nie sprechen, lesen oder schreiben lernen konnte oder tanzen oder singen. Und doch hatte Issas Leben eine Tiefe, wie sie mit der Kategorie „Fairness“ nicht vermessen werden kann. Hier sagt die Kategorie „Mysterium“ mehr aus als die Kategorie „Gerechtigkeit“.
Der Begriff der Fairness ist zu einem Schlüsselbegriff in modernen Gerechtigkeitstheorien geworden. Da heißt es, das gesellschaftliche Leben müsse so gestaltet werden, dass „faire Verhältnisse“ herrschten. Das kann man sich vor allem mit Blick auf Fußball klar machen. „Fairplay“ ist eine Abkürzung für gerechtes Gestalten. Ein Spiel ist fair, wenn weitgehend die gleichen Bedingungen für alle gelten und so etwas wie Chancengleichheit herrscht. Das Attribut „fair“ kann als „frei von Verzerrungen“ oder auch als „klar“, „unbehindert“ oder „moderat“ übersetzt werden. „Fairness“ hat insofern mit Unparteilichkeit zu tun, als zwei gegnerische Mannschaften dann auf faire Verhältnisse stoßen, wenn diese von einem unparteiischen Dritten bestimmt werden. Der Standard der Fairness setzt, um gediegen zu funktionieren, ein bestimmtes Maß an Gleichheit voraus. „Fairness“ ist ein wichtiger Begriff in einem Wettkampfgeschehen, also dort, wo Konkurrenz herrscht, wo Menschen um das Gleiche wetteifern.
Fairness hat nicht nur mit expliziten Regeln, sondern auch mit ungeschriebenen Regeln und Einstellungen zu tun. Fußballfans in Österreich erinnern sich an den 26. August 2000, als Christian Mayrleb im Dress von Austria Wien im Bregenzer Casinostadion ein Tor erzielte, das ungeschriebene Fairplay-Regeln und den fußballerischen Ehrenkodex verletzte: Er missachtete die Idee, dass der Ball nach der Behandlung eines verletzten Spielers wieder an jene Elf zurückgegeben wird, die den Ball ins Out geschossen hatte, um die Spielunterbrechung zu ermöglichen. Zur Verblüffung auch der eigenen Mannschaft schnappte sich Mayrleb den Ball und beförderte ihn ins gegnerische Tor, anstatt ihn galant an Bregenz abzugeben. Der damalige Austria-Wien-Präsident war dermaßen ob dieser Verletzung von Fairness-Standards aufgebracht, dass das Spiel neu ausgetragen wurde.
„Fairness“ ist ein gewichtiger Begriff, ein hoher Wert. Es verwundert nicht, dass „Gerechtigkeit als Fairness“ ein beliebter Gedanke ist. Fairness ist ein verständliches und gut begründbares Anliegen, aber Issas Leben spricht eine andere Sprache, muss in einer anderen Sprache gefasst werden, erzählt von Dimensionen, die mit dem Begriff „Fairness“ nicht ausgelotet werden können. Hier stoßen wir an eine Grenze, ähnlich der Grenze, die der berühmte Theologe Gustavo Gutiérrez in seinem Werk Von Gott sprechen in Unrecht und Leid über das biblische Buch Hiob beschrieben hat: Hiob ringt mit Gott und findet sich unfair behandelt, erhält aber keine Antworten auf seine Frage und sein Ringen um Gerechtigkeit. Hiob muss, so Gutiérrez in seiner Deutung, eine neue Sprache lernen, die Sprache des „Mysteriums“, die anerkennt, dass es Dimensionen gibt, die nicht mit Begriffen wie „Fairness“ oder „Gerechtigkeit“ vermessen werden können (ähnlich verhält es sich mit dem berühmten Gleichnis der Arbeiter im Weinberg [Matthäusevangelium 20,1–16], die alle „unfairerweise“ denselben Lohn erhalten, obwohl sie unterschiedlich lang gearbeitet haben). Issa war ein Mysterium und lehrte etwas über das Mysterium des Lebens.
Issas Leben schenkte den Eltern die, wie diese es beschrieben, „demutgebende Erfahrung, auf andere angewiesen zu sein“; die Familie hätte nicht leben können ohne Dutzende Menschen, die gekocht und geputzt, eingekauft und gewaschen haben, die sich darin abgewechselt haben, das Baby zu halten oder auf Issas Geschwister aufzupassen, wenn wieder ein Krankenhaustermin anstand. Mit „guten Argumenten“ hat das, was Issas Leben ausmachte und verlangte, wenig zu tun. Die Menschen packten an, ohne durch Argumente überzeugt zu werden. Auch das ist eine Dimension des Mysteriums. Wenn man versucht hätte, Issas Leben mit Argumenten zu erkunden, wäre man vielleicht zum Schluss gekommen, dass sich der Aufwand nicht rechtfertigen lasse. Hier zeigt sich dann nicht der bekannte zwanglose Zwang des besseren Arguments, sondern eine Lebenshaltung.
Der englische Theologe Rowan Williams hatte in einem einflussreichen Aufsatz auf zwei Arten von moralischen Entscheidungen aufmerksam gemacht: Nach einer weit verbreiteten ersten Art geht es darum, Optionen aufzulisten und Argumente zu sammeln: Was gibt es für Handlungsmöglichkeiten, was spricht dafür, was spricht dagegen? Das ist vernünftig und wird bei vielen Entscheidungen, etwa in Politik und Wirtschaft, so gehandhabt. Daneben gibt es aber noch eine zweite Art, Entscheidungen zu treffen: Man kann nicht anders. Berühmt geworden sind die Worte, die Martin Luther zugeschrieben wurden: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders.“ Das ist keine Frage der Optionen; ein Mensch findet sich manchmal in Situationen, in denen er nicht zwischen Optionen wählen kann, will er sich selbst treu sein. Dieser zweiten Art der Entscheidungsfindung begegnen wir im Falle von Issas Leben: Ihre Eltern haben nicht Optionen abgewogen (sollen wir das Kind auf die Welt bringen oder nicht, sollen wir das Kind versorgen oder nicht?); die Eltern haben getan, was sie tun mussten; sie konnten nicht anders. Das war keine Frage von Argumenten und Handlungsoptionen, sondern eine Frage des schlichten: Das verlangt das Leben jetzt von uns. Diese Frage rührt mehr an das Mysterium des Menschseins als an die Kraft der Argumente.
Ja, und dann ging es zu Ende. In der Nacht des 24. März 2014 wurde Issas Atmen langsamer und schwächer. Sean und Felicia weckten ihre anderen drei Kinder und sie versammelten sich im Schlafzimmer. Kurz darauf starb Issa, in den Armen ihrer Schwester Sophie.
Issa zu halten war etwas ganz Besonderes; Issas Leben war etwas ganz Besonderes. In ihrer Todesanzeige hieß es: „Sie hat uns geführt und gelehrt.“ Issa war Lehrerin über das Eigentliche des Lebens. In diesem Sinne kann man die Ansprache von Papst Johannes Paul II. am 11. September 1983 im „Haus der Barmherzigkeit“ in Wien verstehen, wenn der Papst – zwei Jahre zuvor selbst schwer verletzt und Patient – zu den Bewohnern und Bewohnerinnen sagte: „Die Krankenzimmer dienen einem Volk nicht weniger als die Klassenzimmer und die Hörsäle.“ Issa, immer wieder im Krankenhaus, immer wieder in ihrem Wohnzimmer, das zum Krankenzimmer wurde, lehrte alle, die mit ihr in Berührung