Familienleben
Meine Kindheit in Hamm
Wie bin ich aufgewachsen? Was hat mich zu dem gemacht, der ich bin? Fragen, die man sich erst im Alter zu stellen beginnt. Man hat uns Kinder wohlbehütet, aber gleichzeitig sehr liberal erzogen, inmitten der Atmosphäre einer typischen deutschen Kleinstadt mit knapp 60.000 Einwohnern.
Meinen Vater würde ich heute als einen strengen, konservativen Geschäftsmann beschreiben, der einen florierenden Getränkevertrieb in Hamm aufgezogen hat. Meine Mutter war eine liebevolle, weltoffene Schneidermeisterin, die zusätzlich an der Berufsschule unterrichtete.
Süß, lieb, brav und hübsch, das sind jene Attribute, die meiner Mutter, Elisabeth Kröger-Ernst, ad hoc einfallen, wenn man sie zur Kindheit ihres ältesten Sohnes befragt. Vielleicht würde sie meinen Bruder Wolfgang, der zwei Jahre jünger ist als ich, ganz anders beschreiben. Wolfgang lebt seit vielen Jahren an der Ostsee in Ahrenshoop, ist verheiratet und betreibt dort das im Norden bekannte Künstlerhotel „Seezeichen“. Ich habe leider viel zu wenig Kontakt zu ihm. Ist es die Entfernung, der Beruf, ist es unser beider Schuld – ich will und kann es nicht beurteilen.
Annette Gilles, meine Schwester, ist sieben Jahre älter als ich. Sie lebt mit ihrer Familie in Bad Schwalbach in der Eiffel, ist ausgebildete Medizinisch-technische Assistentin und in einer Kuranstalt höchst erfolgreich in der medizinischen Forschung und Fortbildung tätig. Erst kürzlich hat sie ein Fachbuch über Hämatologie auf den Markt gebracht.
Einen kleinen Bruder hat sich Annette immer gewünscht, und dann war ich plötzlich da. Sie war bitter enttäuscht, wie sie heute ehrlich erzählt: „Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mit so einem Brüderchen gleich einmal zum Fußballspielen gehen kann. Dann kam ein kleines Ding zur Welt, dem ich die Windeln wechseln musste.“
Sie war zwar vernarrt in ihren kleinen Bruder und fand ihn ganz entzückend, aber ich war eine riesige Herausforderung für sie, denn Annette musste beinahe von meiner Geburt an und vor allem während der Hort- und Schuljahre die Rolle der Ersatzmutter übernehmen. Als Kleinkind war ich der jüngere Spielgefährte und sehr stark auf sie fixiert. Doch als meine Schwester in die Pubertät kam, waren die sieben Jahre Altersunterschied mitunter ein regelrechter Keil in unserer Beziehung. Sie wollte abends weggehen und Gleichaltrige treffen, aber ich war immer da, wollte sie begleiten und nervte. Entweder quengelte ich so lange, bis ich mit ihr abends ausgehen durfte, oder wir gingen unseren Eltern so sehr auf die Nerven, dass wir beide zuhause bleiben mussten.
Unsere Mutter kommentiert die damals etwas chaotische Situation so: „Unsere Kinder mussten schon von klein auf sehr selbstständig sein. Annette, als Älteste, trug eine große Verantwortung, die sie bestens gemeistert hat.“
Wolfgang und ich bezeichneten unsere Schwester immer ganz liebevoll als Vize-Mama, denn unsere Mutter werkte entweder in der Schneiderei oder war als Ausbildnerin in der Berufsschule unabkömmlich. Unser Vater war oft tagelang für den Getränkevertrieb im Außendienst unterwegs oder arbeitete bis in die Nachtstunden im angeschlossenen Verkaufskiosk. Viel hatten wir nicht von unseren Eltern, aber es ging nicht anders.
„Wir hatten schöne Zeiten, mussten aber auch schwere durchstehen.“ Mutter hat die oftmals schwierige finanzielle Situation in der Aufbauphase des Betriebes in Hamm immer wieder erwähnt. Vater hatte aus seiner ersten Ehe zwei halbwüchsige Kinder zu versorgen, und so lag es größtenteils an ihr, für das leibliche und finanzielle Wohl unserer Familie aufzukommen.
Der Nachwuchs im Hause Kröger hat das Mitanpacken im Haushalt und später im väterlichen Betrieb früh gelernt. Nach der Schule erledigten Wolfgang und ich die Hausaufgaben und begannen dann mit der Auslieferung der Getränke oder arbeiteten im Kiosk mit. Schon vor der Pubertät mussten wir mehr Verantwortung übernehmen als gleichaltrige Schulkollegen. Damals haben wir das nicht als sehr prickelnd empfunden.
Ich war ein kreatives Kind
Süß, aber vor allem kreativ und künstlerisch begabt, so beschreiben mich meine Schwester und auch meine Mutter immer wieder. Mein Bruder sagte einmal zu mir: „Du warst der Künstler in unserer Familie und wurdest von allen darum beneidet. Im Gegensatz zu mir hast du nie viel Zeit ins Lernen investiert. Du bist über die Bücher einmal drübergeflogen und hattest sofort alles intus. Du hattest ein fotografisches Gedächtnis.“
Es mag sein, dass mir die Schulzeit leicht gefallen ist, aber grundsätzlich war ich stinkfaul und hätte bestimmt viel mehr erreichen können. Meine Noten waren eher im Mittelfeld angesiedelt. Die Schule hat nie mein Interesse geweckt, aber da ich mir alles gut merken konnte, brachte ich die Jahre am naturwissenschaftlichen Gymnasium von Hamm meiner Meinung nach ausgezeichnet hinter mich. Ein musisch-pädagogisches Gymnasium wäre meinen Neigungen bestimmt mehr entgegengekommen, aber es war zu weit weg von dem Ortsteil, in dem wir wohnten.
Ich kann nicht gerade sagen, dass ich damals hipp war. Ich war vielleicht beliebt bei den Lehrern und auch bei den Mädels in unserer gemischten Klasse, weil ich ruhig war, angenehm und unauffällig. Und so habe ich auch ausgesehen. Wie eine Prinz-Eisenherz-Kopie mit blonden Haaren und einem Rundschnitt. Cool war ich sicherlich nicht, aber alle mochten mich. Aufbegehrt habe ich selten, ich war kein Revoluzzer. Nur wenn es um offensichtliche Ungerechtigkeit ging, zeigte sich mein Kampfgeist. Von all den anderen Jungs in meinem Alter hat mich vor allem eines gravierend unterschieden: Ich hasste Fußball. Allein das machte mich schon zum Außenseiter. Viel lieber und mit großer Begeisterung beteiligte ich mich an anderen sportlichen Aktivitäten wie Leichtathletik. Ich glaube, ich war sogar einmal der schnellste Läufer meines Jahrgangs.
Mein wahres Interesse galt den schönen Dingen des Lebens. Am wohlsten fühlte ich mich innerhalb der Familie und in meinem Freundeskreis. Das Vertraute war meine Welt. Ich bin nicht sicher, ob sich das heute nicht immer noch ähnlich verhält. So wie damals beginne ich auch heute noch zu fremdeln, wenn ich in mir unbekannte Kreise komme. Es mag absurd klingen, aber ich fühlte mich oft als Eindringling. Privatsphäre und Harmonie waren und sind mir immer wichtig. Stets habe ich versucht, Menschen, die ich nicht kannte, mit sensiblen Fragen und Einfühlsamkeit zu erreichen. Diesbezüglich war ich privat nie ein guter Schauspieler. Man hat mir meine Gemütssituation, meine Ängste, Zu- oder Abneigung sofort am Gesichtsausdruck ansehen können.
Mit 50 hat man natürlich mehr Lebenserfahrung vorzuweisen, ist abgeklärter, aber im Grunde bin ich der kleine, schüchterne Uwe geblieben. Das Kennenlernen, eine Freundschaft hat für mich mit Respekt vor dem anderen zu tun. Man kann durchaus viel Spaß miteinander haben, aber besonders am Beginn einer Bekanntschaft oder in einem ungewohnten Umfeld habe ich immer mehr aus dem Hintergrund agiert, vorsichtig die Menschen und die Lage beobachtet, bevor ich mich geöffnet und etwas von mir preisgegeben habe. Ich denke, das hat mich bis heute vor vielen unangenehmen Überraschungen bewahrt.
Ich hasste die jagdgrüne Lagerfeuerromantik
Mein Vater war passionierter Jäger und an einem Jagdrevier in Niedersfeld im Sauerland beteiligt. An den Wochenenden musste die gesamte Familie Ausflüge in den Wald unternehmen und am Abend wurde regelmäßig musiziert.
Was daran schlimm ist? Es waren die Volks- und Weidmannslieder, die Hermann Kröger mit der Gitarre in der Hand anstimmte, der Zwang, der für mich alles überschattet hat. Die unfreiwillige Lagerfeuerromantik, wenn wir vor der spartanisch ausgerüsteten Hütte im Kreise der Familie musizierten. Mir läuft ein Schaudern über den Rücken, wenn ich mich an dieses Jagdgetue erinnere, obwohl ich im Schießen, das wir natürlich lernen mussten, ganz gut war.