„Wie es scheint, werden meine Dienste auch hier benötigt“, erklärte er und zwinkerte Grace zu. „Was halten Sie davon, für diese Fahrt eine Art Reisegemeinschaft zu bilden?“
„Wie meinen Sie das?“, scheute sich Grace nicht, ihre Skepsis zu äußern. Eine allein reisende Frau musste vorsichtig sein.
„In Gemeinschaft ist man immer sicherer als allein. Außerdem hätte ich auch nichts gegen ein paar Freunde an Bord.“
Emmaline lachte erneut. „Sagen Sie besser gleich zu. Er wird Sie sonst so lange bearbeiten, bis Sie nachgeben. Glauben Sie mir, ich spreche da aus Erfahrung.“ Dann streckte sie ihre Hand aus, die in einem feinen Handschuh steckte. „Ich bin Emmaline Moore. Und auch ich bin froh darüber, einen Freund an Bord zu haben.“
„Grace Abernathy“, erwiderte Grace lächelnd und schüttelte die Hand. Emmalines ansteckend gute Laune war wohltuend wie ein Heilmittel. Einen Augenblick lang zögerte Grace, dann bot sie ihre Hand auch Quinten an. „Also gut, Mr Aspinall. Wie es scheint, haben Sie soeben eine neue Freundin gefunden.“
„Freunde also. Und bitte nennen Sie mich doch Quinn.“
Hochspritzendes Wasser nässte das Deck und Quinn führte Grace und Emmaline an eine geschütztere Stelle. Er zeigte zu den Stühlen und fragte: „Warum setzen wir uns nicht und lernen uns ein wenig kennen? Es würde mich sehr interessieren, aus welchem Grund Sie nach Kanada reisen. Und warum Emmaline mit einem rätselhaften männlichen Begleiter unterwegs ist, mit dem sie weder verwandt noch verheiratet ist.“
„Das würde mich auch interessieren“, gestand Grace, die es sich gerade auf einem der Stühle bequem machte.
„Ach, das ist kein großes Geheimnis. Jonathan und ich sind zusammen aufgewachsen, wir sind wie Geschwister“, begann sie, als sie sich anmutig auf einen der anderen Liegestühle niederließ. „Als ich ihm von meinem Plan erzählte, nach Kanada zu fahren und nach meinem Vater zu suchen, bestand er darauf, mich zu begleiten. In getrennten Kabinen, versteht sich.“
„Welch ein Glück“, entgegnete Grace. „Ich wünschte, ich hätte auch jemanden, der mich begleitet.“
„Warum sind Sie denn auf der Reise, Grace?“, erkundigte sich Quinn, dessen eine Gesichtshälfte im Schatten lag.
„Ich besuche meine Schwester. Ihr Mann ist im Krieg gefallen, jetzt ist sie ganz allein mit dem Baby.“ Wieder fingerte Grace an dem goldenen Kreuz herum, das ihr um den Hals hing. „Ich hoffe, dass ich sie überzeugen kann, mit mir zurück nach Hause zu kommen.“
„Das tut mir sehr leid für Ihre Schwester“, bekundete Emmaline ihr Beileid und sah ehrlich betrübt aus. „Dieser Krieg hat unzählige Menschenleben gekostet.“
„Das ist wahr.“
Grace atmete die salzige Luft ein und wandte sich dann an Emmaline. „Sie haben gesagt, dass Sie nach Ihrem Vater suchen?“
„Ja. Das ist eine lange Geschichte …“, erwiderte sie und zog ihr Cape hoch bis ans Kinn. „Ich dachte all die Jahre, dass mein Vater tot sei. Als ich dann hörte, dass er lebt, und zwar in Kanada, musste ich mich einfach auf die Suche nach ihm begeben.“
„Das kann ich gut verstehen“, sagte Grace und dachte an die vielen Jahre ohne ihren eigenen Vater. Wenn es irgendeine Möglichkeit gegeben hätte, ihn lebend zu finden, wäre sie dafür sogar bis nach China gereist.
„Und was ist mit Ihnen, Quinn?“
Ein plötzlicher Windstoß drohte, seinen Hut wegzufegen. Schnell nahm er ihn ab und behielt ihn fortan auf seinem Schoß. „Meine Geschichte ist ähnlich, auch ich bin auf der Suche nach Familienmitgliedern. Nach Geschwistern, genauer gesagt.“ In seinen Augen lag ein stürmischer Blick und er biss die Zähne zusammen. „Aber mehr möchte ich darüber nicht erzählen.“
Grace befürchtete, dass es sich um eine leidvolle Geschichte handelte. Es schien, als hätte jeder auf dieser Reise seine eigenen Kümmernisse zu tragen. Trotz allem fühlte sie sich in diesem Moment zum ersten Mal nicht mehr allein, seit sie ihr Zuhause verlassen hatte. „Nun, ich bin jedenfalls dankbar, Sie als meine Reisegefährten zu haben. Und ich bete, dass wir in Kanada die Antworten finden, nach denen wir suchen.“
Quinn nickte, auch wenn sein Gesicht düster wirkte. „So Gott will. Ich hoffe nur, dass wir mit dem, was wir herausfinden, auch leben können.“
Grace zitterte und verbarg sich noch tiefer in ihrem Mantel, während sie sich fragte, was hinter dem seltsamen Tonfall seiner Worte steckte. Nur Gott wusste, was ihnen bevorstand. Im Angesicht einer solch unsicheren Zukunft blieb Grace nichts anderes übrig, als auf ihren Glauben zu bauen und zu vertrauen.
Kapitel 1
Meine liebe Grace, | April 1914 |
ich habe es geschafft! Ich bin in Toronto angekommen. Im April ist es hier immer noch kalt und der Frühling ist kaum zu erahnen. Aber Pastor Burke hat mir geholfen, eine hübsche kleine Pension mitten in der Stadt zu finden. Mrs Chamberlain, die Besitzerin, ist eine freundliche, großzügige Frau. Sie hat mich zusammen mit ein paar anderen Mädchen aus England unter ihre Fittiche genommen und mich sehr herzlich willkommen geheißen. Hier kann ich beinahe vergessen, dass ich Tausende Meilen von dir getrennt bin. Aber nur beinahe …
TORONTO, ONTARIO
MAI 1919
„Da wären wir, Miss. Das macht dann zwei Dollar fünfzig.“
Grace bezahlte und stieg aus dem Wagen. Hier stand sie nun, auf einem Bürgersteig in Toronto, ihre Reisetasche eng an sich gedrückt.
Sie konnte kaum glauben, dass sie nach einer sechstägigen Schifffahrt, einer Zugreise von Halifax nach Montreal und einer weiteren Zugfahrt von Montreal nach Toronto nun tatsächlich am Ziel angekommen war.
Die ersten Eindrücke von Kanada waren so unterschiedlich wie die drei Städte, die sie seit der Ankunft am Hafen von Nova Scotia gesehen hatte. Das kalte graue Halifax hatte immer noch einige Überreste des Winters gezeigt, dazu flächenweise mit Schnee bedeckte Landschaften. Montreal hingegen war ihr sehr fremd und etwas angsteinflößend vorgekommen. Überall standen große Gebäude und man hörte seltsames, blitzartig schnell gesprochenes Französisch. Und nun Toronto. Da sie sich noch nicht einmal eine Stunde in der Stadt befand, musste sich ihr Bild davon erst noch formen. Auf der Fahrt von der Union Station kam sie zunächst an einer skandalösen Mischung aus Gebäuden vorbei, von Bürotürmen bis zu historischen Kirchen, bis sie schließlich zu einer Wohnsiedlung mit dreispurigen Straßen gelangte.
Kaum zu glauben, dass noch keine drei Wochen vergangen waren, seit Grace sich zu Hause in Sussex um ihre Mutter gekümmert hatte und alles so normal erschien, wie es nach den Kriegsverwüstungen möglich war. Nur schlecht verarbeiteten sie und ihre Mutter die Nachricht vom Tod ihres Bruders Owen, der kurz vor Friedensschluss in einer der letzten Schlachten gefallen war. Ihre Mutter verkraftete die Nachricht gar nicht gut und fiel über diesen Verlust in eine tiefe Depression. Nichts, was Grace tat oder sagte, schien ihre Stimmung heben zu können.
Ein weiterer Grund dafür, weshalb ihr diese Reise so viel bedeutete.
Nun aber wandte Grace ihre Aufmerksamkeit dem roten Backsteinhaus vor sich zu. Es war nicht ansatzweise so spartanisch, wie sie es sich vorgestellt hatte. In diesem hübschen Haus fühlten sich Rose und das Baby sicher sehr wohl. An den Bäumen im Vorgarten grünten die ersten Blätter und ein einladender Blumentopf mit Stiefmütterchen stand auf der weißen Veranda. Darüber gab es einen Balkon, der über die gesamte Hausfront verlief und in der Mitte einen kleinen, überdachten Erker hatte. Wo Rose wohl wohnte? Womöglich im dritten Stock, wo ein ansprechendes Mansardenfenster aus dem Dach blickte.
Grace atmete tief ein und drückte ihre Hand auf den Magen, der immer noch