»Weil Menschen mit goldenem Blut gefährlicher leben. Sie sind verletzbarer. Gejagter. Werden öfter gestochen, ausgesaugt, benutzt. Wer will das schon?« Perfidus seufzte schwer. »Viele werden mit reinem Herzen und goldenem Blut geboren. Aber weil sie die Gefahr hassen, vergiften sie ihr Herz. Menschen mit unreinem Herzen und ungoldenem Blut leben in Abadonien sicherer.«
»Sicherer vielleicht. Aber auch glücklicher?«
»Ach«, seufzte der Alte. »Glück. Was ist das schon? Wenn man sich nur lang genug einredet, dass alles gut ist, und wenn man sich nur mit Menschen mit der gleichen Blutungoldheit abgibt und wenn man sich möglichst wenig an die Zeit erinnert, als das Blut noch golden war … dann bekommt man irgendwann das Gefühl, das hier müsste so etwas wie Glück sein.«
»Aber du«, Akio hob vorsichtig den Kopf, »du erinnerst dich doch! Du trägst doch noch die Sehnsucht in dir! Warum änderst du nicht dein Leben? Du könntest dein Leben als Blutspäher aufgeben!«
»Wie soll ich das?« Perfidus schüttelte den Kopf. »Sein Blut verungoldigen – das geht schnell. Indem man Hass, Neid, Misstrauen, Missgunst in sein Herz lässt. Aber sein ungoldenes Blut wieder vergolden? Das geht nicht.« Er drehte sich auf den Rücken und schaute in den wolkenverhangenen Himmel. »Und meine Sehnsucht – normalerweise schlummert die so tief in mir drin, dass ich nichts davon spüre. Ich liefere Goldblüter an die Bluträuber. Ich bekomme mein Geld, ich werde in Ruhe gelassen. Ich führe üblicherweise auch keine Gespräche mit Goldblütern. Und sie nicht mit mir. Die Sehnsucht nach dem Leben mit goldenem Blut – die hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr so stark vor Augen wie in dieser Nacht. Und das liegt hauptsächlich an dir.« Jetzt sah er Akio wieder an.
»Das tut mir leid. Das wollte ich nicht.«
»Das muss dir nicht leidtun. Diese Sehnsucht in mir fühlt sich gut und wahr an. An der möchte ich festhalten.« Akio sah, wie eine Träne über Perfidus’ Wange rann. »Du bist der Erste seit Ewigkeiten, der mich nach meinem Namen gefragt hat. Und es tut mir leid zu wissen, dass du mit deinem goldenen Blut in Gomorra nicht sehr weit kommen wirst. Die Stadt ist voller Blutspäher. Bluträuber. Bluthunde. Und anderer herzloser Kreaturen, die nicht danach fragen, wie sich ein Herz mit goldenem Blut anfühlt.« Perfidus wischte sich die Träne aus dem Gesicht. »Aber danke, dass du mich an meinen Namen erinnert hast. Diese Nacht werde ich so schnell nicht vergessen.«
Akio richtete sich etwas auf und stützte seinen Oberkörper auf den Unterarm. Etwas an dieser Erzählung passte nicht zusammen. »Es muss doch einen Ausweg geben. Du sehnst dich nach deinem goldenen Blut zurück. Du willst an dieser Sehnsucht festhalten. Aber was nützt eine Sehnsucht, die nicht gestillt wird? Es muss doch möglich sein, aus diesem Zustand erlöst zu werden!«
Perfidus lag wieder auf dem Rücken und starrte in den Himmel. Die Hände hatte er auf seinem Bauch gefaltet. »Die Vorfahren haben uns von einer Prophezeiung erzählt. Einer soll kommen, dessen Blut so golden ist, wie es niemals zuvor in Abadonien gesehen wurde. Der wird den Moloch ein für alle Mal besiegen und dann wird es niemals mehr nötig sein, Blut und Opfer für einen finsteren Drachen jagen zu müssen.«
»Und wer ist das, der kommen soll?«
»Ich weiß es nicht.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht. Ich hab noch nie einen gesehen, auf den das zutreffen würde. Ich weiß auch nicht, ob diese Prophezeiung überhaupt stimmt. Wahrscheinlich ist es einfach eine Erzählung, die die Hoffnung in uns wachhalten soll, dass irgendwann einmal alles besser wird. Aber es ist ein schöner Gedanke. Denn wenn einen die Sehnsucht überfällt, dann kann man sich einreden: Es könnte ja sein, dass einmal alles besser wird.« Perfidus lächelte.
»Ein schwacher Trost«, fand Akio. »Und dafür solche Märchen erfinden …«
Ein lauter Schrei ließ Akio und auch Perfidus erschrocken in die Höhe fahren. Pollum schlug im Inneren von Akios Hemd aufgeregt quiekend Purzelbäume. Silva war es, die ihre Glieder mit lautem Geschrei reckte und streckte, um sich und die anderen wach zu bekommen. »So! Genug geschlafen!«, entschied sie lautstark. »Aufstehen, Sachen packen! Wir wollen bei Sonnenaufgang in Gomorra sein!«
Kapitel 12
»Hanna, wir müssen zurück zum Spielplatz.« Alex fasste Hanna an beide Schultern und schaute sie ernst und eindringlich an.
Hanna machte große und glasige Augen. »Hanna Beine müde.«
»Hanna, wir müssen aber. Hörst du? Ich hab mein geheimes Geschichtenbuch beim Spielplatz vergessen. Sollen wir es da liegen lassen?«
»Nein. Nicht liegen lassen. Alex holen.«
»Ich will es ja holen. Aber ich kann dich ja nicht hier alleine lassen.«
»Alex holen. Hanna hier sitzen.« Und um zu zeigen, wie brav sie sitzen konnte, setzte sie sich an Ort und Stelle auf den Boden. Sie grinste fröhlich. »Hanna sitzen.«
Leichte Panik stieg schon wieder in ihm auf. »Nein, Hanna, das geht nicht. Das geht wirklich nicht. Ich kann dich hier nicht alleine lassen. Nachher haust du mir wieder ab!«
»Nein. Hanna nicht abhauen. Sitzen.«
»Ja, das hab ich ja eben auf dem Spielplatz gesehen. Es geht nicht, Hanna. Du kommst mit und wir gehen beide zum Spielplatz und holen das Buch. Danach erzähl ich dir auch eine Geschichte. Versprochen.«
Hanna strahlte: »Ja, Geschichte!«
»Geschichte auf dem Spielplatz.«
»Nein, nicht Spielplatz.«
»Doch Spielplatz!«
Hanna kippte zur Seite und rollte sich auf der Wiese ein, als wollte sie sich schlafen legen. »Hanna müde.«
Alex merkte, wie er so langsam nicht mehr weiter wusste. Er setzte sich neben Hanna auf den schmalen Weg und streichelte ihr über den Oberarm. »Bitte, Hanna.«
Hanna hatte die Augen geschlossen. »Bitte, Alex, nein.«
Letzter Versuch: »Ich pack dich auf den Rücken und nehm dich Huckepack.«
»Nein, nicht. Hanna liegen. Immer nur hier liegen.«
Toll. Immer nur hier liegen. Obwohl Hanna weder wütend noch streng oder beleidigt war, schien klar, dass damit ihr letztes Wort gesprochen war. Was jetzt? Sollte er das Buch einfach da liegen lassen? Immerhin war es nur ein Buch. Ein Notizbuch mit ollen, zerrissenen Schmierzetteln. Weniger wertvoll als Hanna. Ganz klar. Andererseits steckte in diesem Buch ein Stück von ihm selbst. Eine Welt, die er geschaffen hatte, über die er der Herr war. Eine Welt voller Personen, die mehr oder weniger lebten und die in ihren Geschichten ein gutes Ende bekommen sollten. So was konnte man nicht einfach wegschmeißen.
Vorsichtig schaute er Hanna an. Sie lag so lieb und süß und unschuldig auf dem Boden, als hätte sie sich unter ihre Bettdecke gekuschelt und wollte schlafen. Wenn er sich einfach ganz doll beeilte? Er hatte sie vorhin ja auch wiedergefunden. Und er würde jetzt nicht so lange brauchen wie vorhin, als er beim Schreiben die Welt um sich herum vergessen hatte.
»Versprichst du mir, Hanna, hier liegen zu bleiben, bis ich wiederkomme?«
»Ja«, sagte Hanna müde, ohne die Augen zu öffnen.
»Ganz, ganz ehrlich?«
»Ja.«
»Okay. Dann lauf ich jetzt ganz schnell zurück zum Spielplatz und hol das geheime Geschichtenbuch. Und wenn du danach immer noch hier sitzt oder liegst, dann erzähl ich dir eine Geschichte. Ja?«
Hanna lächelte vergnügt und kuschelte sich noch mehr in den Boden hinein, als wäre er eine weiche Matratze. »Ja. Geschichte.«
Vorsichtig stand Alex auf. »Okay. Dann geh ich jetzt.«
»Ja.«
»Und du bleibst hier liegen.«
»Ja.«
»Nicht weglaufen.«
»Nein.