Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend. Hermann Hesse. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Hesse
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 4064066115920
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zerstörte die Einbildungen. Dann mußte ich gehen, mußte meinem Peiniger an schlechte und häßliche Orte folgen, mußte ihm Rechenschaft ablegen und mich um Geld mahnen lassen. Das Ganze hat vielleicht einige Wochen gedauert, mir schien es aber, es seien Jahre, es sei eine Ewigkeit. Selten hatte ich Geld, einen Fünfer oder einen Groschen, der vom Küchentisch gestohlen war, wenn Lina den Marktkorb dort stehen ließ. Jedesmal wurde ich von Kromer gescholten und mit Verachtung überhäuft; ich war es, der ihn betrügen und ihm sein gutes Recht vorenthalten wollte, ich war es, der ihn bestahl, ich war es, der ihn unglücklich machte! Nicht oft im Leben ist mir die Not so nah ans Herz gestiegen, selten habe ich größere Hoffnungslosigkeit, größere Abhängigkeit gefühlt.

      Die Sparbüchse hatte ich mit Spielmarken gefüllt und wieder an ihren Ort gestellt, niemand fragte danach. Aber auch das konnte jeden Tag über mich hereinbrechen. Noch mehr als vor Kromers rohem Pfiff fürchtete ich mich oft vor der Mutter, wenn sie leise zu mir trat — kam sie nicht, um mich nach der Büchse zu fragen?

      Da ich viele Male ohne Geld bei meinem Teufel erschienen war, fing er an, mich auf andere Art zu quälen und zu benutzen. Ich mußte für ihn arbeiten. Er hatte für seinen Vater Ausgänge zu besorgen, ich mußte sie für ihn besorgen. Oder er trug mir auf, etwas Schwieriges zu vollführen, zehn Minuten lang auf einem Bein zu hüpfen, einem Vorübergehenden einen Papierwisch an den Rock zu heften. In Träumen vieler Nächte setzte ich diese Plagen fort und lag im Schweiß des Alpdruckes.

      Eine Zeitlang wurde ich krank. Ich erbrach oft und hatte leicht kalt, nachts aber lag ich in Schweiß und Hitze. Meine Mutter fühlte, daß etwas nicht richtig sei, und zeigte mir viel Teilnahme, die mich quälte, weil ich sie nicht mit Vertrauen erwidern konnte.

      Einmal brachte sie mir am Abend, als ich schon im Bett war, ein Stückchen Schokolade. Es war ein Anklang an frühere Jahre, wo ich abends, wenn ich brav gewesen war, oft zum Einschlafen solche Trostbissen bekommen hatte. Nun stand sie da und hielt mir das Stückchen Schokolade hin. Mir war so weh, daß ich nur den Kopf schütteln konnte. Sie fragte, was mir fehle, sie streichelte mir das Haar. Ich konnte nur herausstoßen: „Nicht! Nicht! Ich will nichts haben.“ Sie legte die Schokolade auf den Nachttisch und ging. Als sie mich andern Tages darüber ausfragen wollte, tat ich, als wüßte ich nichts mehr davon. Einmal brachte sie mir den Doktor, der mich untersuchte und mir kalte Waschungen am Morgen verschrieb.

      Mein Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der andern, vergaß mich selten für eine Stunde. Gegen meinen Vater, der mich oft gereizt zur Rede stellte, war ich verschlossen und kalt.

       Kain

       Inhaltsverzeichnis

      Die Rettung aus meinen Qualen kam von ganz unerwarteter Seite, und zugleich mit ihr kam etwas Neues in mein Leben, das bis heute fort gewirkt hat.

      In unsere Lateinschule war vor kurzem ein neuer Schüler eingetreten. Er war der Sohn einer wohlhabenden Witwe, die in unsere Stadt gezogen war, und er trug einen Trauerflor um den Ärmel. Er ging in eine höhere Klasse als ich und war mehrere Jahre älter, aber auch mir fiel er bald auf, wie allen. Dieser merkwürdige Schüler schien viel älter zu sein als er aussah, auf niemanden machte er den Eindruck eines Knaben. Zwischen uns kindischen Jungen bewegte er sich fremd und fertig wie ein Mann, vielmehr wie ein Herr. Beliebt war er nicht, er nahm nicht an den Spielen, noch weniger an Raufereien teil, nur sein selbstbewußter und entschiedener Ton gegen die Lehrer gefiel den andern. Er hieß Max Demian.

      Eines Tages traf es sich, wie es in unsrer Schule hie und da vorkam, daß aus irgendwelchen Gründen noch eine zweite Klasse in unser sehr großes Schulzimmer gesetzt wurde. Es war die Klasse Demians. Wir Kleinen hatten biblische Geschichte, die Großen mußten einen Aufsatz machen. Während man uns die Geschichte von Kain und Abel einbläute, sah ich viel zu Demian hinüber, dessen Gesicht mich eigentümlich faszinierte, und sah dies kluge, helle, ungemein feste Gesicht aufmerksam und geistvoll über seine Arbeit gebeugt; er sah gar nicht aus wie ein Schüler, der eine Aufgabe macht, sondern wie ein Forscher, der eigenen Problemen nachgeht. Angenehm war er mir eigentlich nicht, im Gegenteil, ich hatte irgend etwas gegen ihn, er war mir zu überlegen und kühl, er war mir allzu herausfordernd sicher in seinem Wesen, und seine Augen hatten den Ausdruck der Erwachsenen — den die Kinder nie lieben — ein wenig traurig mit Blitzen von Spott darin. Doch mußte ich ihn immerfort ansehen, er mochte mir lieb oder leid sein; kaum aber blickte er einmal auf mich, so zog ich meinen Blick erschrocken zurück. Wenn ich es mir heute überlege, wie er damals als Schüler aussah, so kann ich sagen: er war in jeder Hinsicht anders als alle, war durchaus eigen und persönlich gestempelt, und fiel darum auf — zugleich aber tat er alles, um nicht aufzufallen, trug und benahm sich wie ein verkleideter Prinz, der unter Bauernbuben ist und sich jede Mühe gibt, ihresgleichen zu scheinen.

      Auf dem Heimweg von der Schule ging er hinter mir. Als die anderen sich verlaufen hatten, überholte er mich und grüßte. Auch dies Grüßen, obwohl er unsern Schuljungenton dabei nachmachte, war so erwachsen und höflich.

      „Gehen wir ein Stück weit zusammen?“ fragte er freundlich. Ich war geschmeichelt und nickte. Dann beschrieb ich ihm, wo ich wohne.

      „Ah, dort?“ sagte er lächelnd. „Das Haus kenne ich schon. Über eurer Haustür ist so ein merkwürdiges Ding angebracht, das hat mich gleich interessiert.“

      Ich wußte gar nicht gleich, was er meine, und war erstaunt, daß er unser Haus besser zu kennen schien als ich. Es war wohl als Schlußstein über der Torwölbung eine Art Wappen vorhanden, doch war es im Lauf der Zeiten flach und oftmals mit Farbe überstrichen worden, mit uns und unsrer Familie hatte es, soviel ich wußte, nichts zu tun.

      „Ich weiß nichts darüber,“ sagte ich schüchtern. „Es ist ein Vogel oder so was Ähnliches, es muß ganz alt sein. Das Haus soll früher einmal zum Kloster gehört haben.“

      „Das kann schon sein,“ nickte er. „Sieh dir’s einmal gut an! Solche Sachen sind oft ganz interessant. Ich glaube, daß es ein Sperber ist.“

      Wir gingen weiter, ich war sehr befangen. Plötzlich lachte Demian, als falle ihm etwas Lustiges ein.

      „Ja, ich habe ja da eurer Stunde beigewohnt,“ sagte er lebhaft. „Die Geschichte von Kain, der das Zeichen auf der Stirn trug, nicht wahr? Gefällt sie dir?“

      Nein, gefallen hatte mir selten irgend etwas von all dem, was wir lernen mußten. Ich wagte es aber nicht zu sagen, es war, als rede ein Erwachsener mit mir. Ich sagte, die Geschichte gefalle mir ganz gut.

      Demian klopfte mir auf die Schulter.

      „Du brauchst mir nichts vorzumachen, Lieber. Aber die Geschichte ist tatsächlich recht merkwürdig, ich glaube, sie ist viel merkwürdiger als die meisten andern, die im Unterricht vorkommen. Der Lehrer hat ja nicht viel darüber gesagt, nur so das Übliche über Gott und die Sünde und so weiter. Aber ich glaube —“ er unterbrach sich, lächelte und fragte: „Interessiert es dich aber?“

      „Ja, ich glaube also,“ fuhr er fort, „man kann diese Geschichte von Kain auch ganz anders auffassen. Die meisten Sachen, die man uns lehrt, sind gewiß ganz wahr und richtig, aber man kann sie alle auch anders ansehen, als die Lehrer es tun, und meistens haben sie dann einen viel besseren Sinn. Mit diesem Kain zum Beispiel und mit dem Zeichen auf seiner Stirn kann man doch nicht recht zufrieden sein, so wie er uns erklärt wird. Findest du nicht auch? Daß einer seinen Bruder im Streit totschlägt, kann ja gewiß passieren, und daß er nachher Angst kriegt und klein beigibt, ist auch möglich. Daß er aber für seine Feigheit extra mit einem Orden ausgezeichnet wird, der ihn schützt und allen andern Angst einjagt, ist doch recht sonderbar.“

      „Freilich,“ sagte ich interessiert: die Sache begann mich zu fesseln. „Aber wie soll man die Geschichte anders erklären?“

      Er schlug mir auf die Schulter.

      „Ganz