Hermann Hesse
Demian: Die Geschichte von Emil Sinclairs Jugend
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2020
EAN 4064066115920
Inhaltsverzeichnis
Fünftes Kapitel Der Vogel kämpft sich aus dem Ei
Achtes Kapitel Anfang vom Ende
Erstes Kapitel
Zwei Welten
Ich beginne meine Geschichte mit einem Erlebnisse der Zeit, wo ich etwa zehn bis elf Jahre alt war und in die Lateinschule unseres Städtchens ging.
Viel duftet mir da entgegen und rührt mich von innen mit Weh und mit wohligen Schauern an, dunkle Gassen und helle, Häuser und Türme, Uhrschläge und Menschengesichter, Stuben voll Wohnlichkeit und warmem Behagen, Stuben voll Geheimnis und tiefer Gespensterfurcht. Es riecht nach warmer Enge, nach Kaninchen und Dienstmägden, nach Hausmitteln und getrocknetem Obst. Zwei Welten liefen dort durcheinander, von zwei Polen her kamen Tag und Nacht.
Die eine Welt war das Vaterhaus, aber sie war sogar noch enger, sie umfaßte eigentlich nur meine Eltern. Diese Welt war mir großenteils wohlbekannt, sie hieß Mutter und Vater, sie hieß Liebe und Strenge, Vorbild und Schule. Zu dieser Welt gehörte milder Glanz, Klarheit und Sauberkeit, hier waren sanfte freundliche Reden, gewaschene Hände, reine Kleider, gute Sitten daheim. Hier wurde der Morgenchoral gesungen, hier wurde Weihnacht gefeiert. In dieser Welt gab es gerade Linien und Wege, die in die Zukunft führten, es gab Pflicht und Schuld, schlechtes Gewissen und Beichte, Verzeihung und gute Vorsätze, Liebe und Verehrung, Bibelwort und Weisheit. Zu dieser Welt mußte unsre Zukunft gehören, so mußte sie klar und reinlich, schön und geordnet sein.
Die andere Welt indessen begann schon mitten in unsrem eigenen Hause und war völlig anders, roch anders, sprach anders, versprach und forderte andres. In dieser zweiten Welt gab es Dienstmägde und Handwerksburschen, Geistergeschichten und Skandalgerüchte, es gab da eine bunte Flut von ungeheuren, lockenden, furchtbaren, rätselhaften Dingen, Sachen wie Schlachthaus und Gefängnis, Betrunkene und keifende Weiber, gebärende Kühe, gestürzte Pferde, Erzählungen von Einbrüchen, Totschlägen, Selbstmorden. Alle diese schönen und grauenhaften, wilden und grausamen Sachen gab es ringsum, in der nächsten Gasse, im nächsten Haus, Polizeidiener und Landstreicher liefen herum, Betrunkene schlugen ihre Weiber, Knäuel von jungen Mädchen quollen abends aus Fabriken, alte Frauen konnten einen bezaubern und krank machen, Räuber wohnten im Wald, Brandstifter wurden von Landjägern gefangen — überall quoll und duftete diese zweite, heftige Welt, überall, nur nicht in unsern Zimmern, wo Mutter und Vater waren. Und das war sehr gut. Es war wunderbar, daß es hier bei uns Frieden, Ordnung und Ruhe gab, Pflicht und gutes Gewissen, Verzeihung und Liebe — und wunderbar, daß es auch alles das andere gab, alles das Laute und Grelle, Düstere und Gewaltsame, dem man doch mit einem Sprung zur Mutter entfliehen konnte.
Und das Seltsamste war, wie die beiden Welten aneinander grenzten, wie nah sie beisammen waren! Zum Beispiel unsre Dienstmagd Lina, wenn sie am Abend bei der Andacht in der Wohnstube bei der Türe saß und mit ihrer hellen Stimme das Lied mitsang, die gewaschenen Hände auf die glattgestrichene Schürze gelegt, dann gehörte sie ganz zu Vater und Mutter, zu uns, ins Helle und Richtige. Gleich darauf in der Küche oder im Holzstall, wenn sie mir die Geschichte vom Männlein ohne Kopf erzählte, oder wenn sie beim Metzger im kleinen Laden mit den Nachbarweibern Streit hatte, dann war sie eine andre, gehörte zur andern Welt, war von Geheimnis umgeben. Und so war es mit allem, am meisten mit mir selber. Gewiß, ich gehörte zur hellen und richtigen Welt, ich war meiner Eltern Kind, aber wohin ich Auge und Ohr richtete, überall war das andere da, und ich lebte auch im andern, obwohl es mir oft fremd und unheimlich war, obwohl man dort regelmäßig ein schlechtes Gewissen und Angst bekam. Ich lebte sogar zuzeiten am allerliebsten in der verbotenen Welt, und oft war die Heimkehr ins Helle — so notwendig und gut sie sein mochte — fast wie eine Rückkehr ins weniger Schöne, ins Langweiligere und Ödere. Manchmal wußte ich: mein Ziel im Leben war, so wie mein Vater und meine Mutter zu werden, so hell und rein, so überlegen und geordnet; aber bis dahin war der Weg weit, bis dahin mußte man Schulen absitzen und studieren und Proben und Prüfungen ablegen, und der Weg führte immerzu an der anderen, dunkleren Welt vorbei, durch sie hindurch, und es war gar nicht unmöglich, daß man bei ihr blieb und in ihr versank. Es gab Geschichten von verlorenen Söhnen, denen es so gegangen war, ich hatte sie mit Leidenschaft gelesen. Da war stets die Heimkehr zum Vater und zum Guten so erlösend und großartig, ich empfand durchaus, daß dies allein das Richtige, Gute und Wünschenswerte sei, und dennoch war der Teil der Geschichte, der unter den Bösen und Verlorenen spielte, weitaus der lockendere, und wenn man es hätte sagen und gestehen dürfen, war es eigentlich manchmal geradezu schade, daß der Verlorene Buße tat und wieder gefunden wurde. Aber das sagte man nicht und dachte es auch nicht. Es war nur irgendwie vorhanden, als eine Ahnung oder Möglichkeit, ganz unten im Gefühl. Wenn ich mir den Teufel vorstellte, so konnte ich ihn mir ganz gut auf der Straße unten denken, verkleidet oder offen, oder auf dem Jahrmarkt, oder in einem Wirtshaus, aber niemals bei uns daheim.
Meine Schwestern gehörten ebenfalls zur hellen Welt. Sie waren, wie mir oft schien, im Wesen näher bei Vater und Mutter, sie waren besser, gesitteter, fehlerloser als ich. Sie hatten Mängel, sie hatten Unarten, aber mir schien, das ging nicht sehr tief, das war nicht wie bei mir, wo die Berührung mit dem Bösen oft so schwer und peinigend wurde, wo die dunkle Welt viel näher stand. Die Schwestern waren, gleich den Eltern, zu schonen und zu achten, und wenn man mit ihnen Streit gehabt hatte, war man nachher vor dem eigenen Gewissen immer der Schlechte, der Anstifter, der, der um Verzeihung bitten mußte. Denn in den Schwestern beleidigte man die Eltern, das Gute und Gebietende. Es gab Geheimnisse, die ich mit den verworfensten Gassenbuben weit eher teilen konnte als mit meinen Schwestern. An guten Tagen, wenn es licht war und das Gewissen in Ordnung, da war es oft köstlich, mit den Schwestern zu spielen, gut und artig mit ihnen zu sein und sich selbst in einem braven, edlen Schein zu sehen. So mußte es sein, wenn man ein Engel war! Das war das Höchste, was wir wußten, und wir dachten es uns süß und wunderbar, Engel zu sein, umgeben von einem lichten Klang und Duft wie Weihnacht und Glück. O wie selten gelangen solche Stunden und Tage! Oft war ich beim Spiel, bei guten, harmlosen, erlaubten Spielen, von einer Leidenschaft und Heftigkeit, die den Schwestern zu viel wurde, die zu Streit und Unglück führte, und wenn dann der Zorn über mich kam, war ich schrecklich und tat und sagte Dinge, deren Verworfenheit ich, noch während ich sie tat und sagte, tief und brennend empfand. Dann kamen arge, finstere Stunden der Reue und Zerknirschung,