»Liebt er dich?«
»Nein, davon ist keine Rede. Er wird Vaters Teilhaber sein, und er braucht jemand für sein Kind. Wir werden uns arrangieren.«
Es klang abschließend. Sie wollte nicht weiter über Gerhard Schilling sprechen. Er sollte ihrem Schwager nicht in einem falschen Licht erscheinen. Sie besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin. Sie ließ einen Imbiß heraufkommen, eine Kanne Tee dazu.
»Danke, Hilde«, sagte sie freundlich zu dem Mädchen, das alles auf einem Tablett brachte. »Greif zu, Andreas. Du hast noch eine lange Nacht vor dir.« Sie schenkte ihm Tee ein.
»Ich bin es gewohnt«, winkte er ab. »Nach Marokko sind es drei Stunden, dann kann ich mich aufs Ohr legen. Ich habe erst den Rückflug am Nachmittag. Übermorgen geht es nach Rio…«
In leichterem Ton wurde die Unterhaltung nun geführt, aber unterschwellig klang es noch in ihnen nach, was sie aufgewühlt hatte.
Ernst wurden sie beide auch wieder, als nun bald der Moment des Abschieds gekommen war. »Laß wieder von dir hören«, bat Ariane den Schwager.
»Das werde ich. Und du wirst es nicht vergessen?«
»Nein, Andreas, wie könnte ich das«, sagte sie, mit gesenkten Lidern vor ihm stehend.
Er küßte sie hauchleicht auf beide Wangen. »Adieu, meine Liebe. Mach’s gut.« Es klang bedeutungsvoll.
Als sie dann wieder allein in ihrer Wohnung war und sich umsah, dachte sie: Ich weiß nicht, ob ich es gut machen kann, Michael. Aber ich will es besser machen. Du sollst es nicht umsonst gesagt haben, als du noch mitten im Leben standest, Michael. Ich werde daran denken, Michael.
*
Irene Keßler schaltete den Fernseher ab. Die Worte des Nachrichtensprechers rauschten doch nur an ihrem Ohr vorbei.
Sie setzte sich wieder und nahm das Buch zur Hand, das zu lesen sie angefangen hatte. Aber nach wenigen Minuten legte sie es beiseite, unfähig, sich darauf zu konzentrieren.
Du bist doch nicht gescheit, so nervös zu sein, schalt sie sich selbst. Ariane wollte an diesem Abend mit Gerhard Schilling zu ihr kommen, na und?
Aber ihr war bange davor. Da konnte sie sich noch so oft einreden wollen, daß gerade eine Vernunftehe nicht unbedingt zum Scheitern verurteilt sein mußte. Doch sie hätte sich so sehr etwas anderes für ihre Nichte gewünscht, nämlich eine Beziehung, die ihr wieder Mut zum Leben geben würde. Mit einem Mann, für den sie nichts empfand, der sie seinerseits auch nur aus Verstandesgründen heiratete, würde Ariane in ihrem dumpfen Schmerz verharren. Und nichts konnte ihr doch die geliebten Verstorbenen zurückgeben, nichts das verlorene Glück.
Die Sorge um diese junge Verwandte war eher schwerer geworden, seit sie von der getroffenen Entscheidung wußte.
Sie hatten sich letzte Woche im Geschäft gesehen, aber es war zuviel zu tun gewesen, um ein persönliches Gespräch zu beginnen. Zwei Angestellte fehlten, es war Urlaubszeit. Dafür waren Touristen in der Stadt. Sie kauften Souvenirs, bebilderte Kunstbände von dieser landschaftlich reizvollen Region, Zeichnungen und Gemälde.
Nur einmal, während eines kurzen Luftholens, hatte Irene gefragt: »Wie war das denn nun am vorigen Sonntag mit dem Kind?«
»Frag mich nicht«, war Arianes Antwort gewesen, und sie hatte ihr Gesicht abgewandt.
Ein Grund mehr für die Tante, bedrückt zu sein.
Irene sprang auf, als sie einen Wagen vorfahren hörte. Sie trat ans Fenster. Ja, das waren sie… Sie holte tief Atem und ging ihnen entgegen.
»Ich darf dir Herrn Schilling vorstellen, Tante Irene.«
Sie reichte ihm die Hand, sie begegnete einem klaren, offenen Blick, sah ein gutgeschnittenes, männliches Gesicht, und das etwas steife Lächeln, das sie sich zur Begrüßung um den Mund gelegt hatte, lockerte sich und wurde heller. »Guten Abend, Herr Schilling. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Es war nicht nur eine Redensart, nein. Ein bißchen leichter wurde ihr schon beim Anblick dieses Mannes, der eine ruhige Sicherheit ausstrahlte und ihr ein nettes Lächeln zurückgab.
»Die Freude ist meinerseits, Frau Keßler, denn Ariane hat mir schon viel Gutes von Ihnen erzählt.«
Sie saßen zusammen bei einem Glas Wein, und sie unterhielten sich. Ariane erzählte vom Besuch ihres Schwagers Andreas, er ließ Irene grüßen.
»Sie haben mir gar nicht gesagt, daß der Besucher Ihr Schwager war«, warf Gerhard ein.
»Es war ja auch nicht von Bedeutung, Gerhard«, sagte Ariane etwas erstaunt.
»Für mich schon«, betonte er. »Es hätte ja auch ein Freund sein können.« Aber er lächelte dabei, es sollte leicht klingen.
Wie er sie ansah! Irene, die erfahrene, lebenskluge Frau, hielt den Atem an. Ja, merkt Ariane denn nicht, daß bei Gerhard Schilling nicht nur der Verstand seine Handlungsweise bestimmte?
Der Mann war doch in sie verliebt!
Er war überhaupt nicht der Typ, der eine Frau nur der gesellschaftlichen Stellung wegen heiraten würde. Das hatte andere Hintergründe. Irene glaubte es nicht nur, sie wußte es.
»Wie gefällt es Ihnen in Arianes Elternhaus«, wandte sie sich mit einem heiteren Lächeln an ihn. »Werden Sie nun später dort wohnen wollen?«
Als Gerhard nicht gleich Antwort gab, sprach Irene verhalten, ihn mit einem Blick streifend: »Sie sind noch nicht ganz dazu entschlossen, nicht wahr? Da ist noch ein innerer Vorbehalt.«
»Die Wohnung, die ich in Aussicht genommen hatte, ist noch nicht verkauft«, sagte Gerhard zögernd.
»Ich verstehe«, nickte Irene. »Sie würden es vielleicht vorziehen, unabhängig zu sein.«
»Aber wir wären es«, fiel Ariane ein. »Wir wären doch für uns.«
»Man sagt ja, es tut nicht gut, wenn Alt und Jung unter einem Dach lebt«, fuhr die Tante ungerührt fort. »Doch muß das nicht immer der Fall sein. Leonard wäre bestimmt froh, wenn endlich einmal Leben ins Haus käme.«
»Wir werden sehen, was für alle beteiligten das Beste sein wird«, meinte Gerhard. »Jedenfalls soll nichts ohne Ihre Zustimmung geschehen, Ariane.«
Er berührte leicht ihre schmale Hand, die neben ihrem Glas auf dem Tisch lag. Es war eine behutsame und doch fast zärtliche Geste.
Als die beiden gingen, war Irene Keßler nicht nur ein Stein, sondern ein ganzer Berg vom Herzen gefallen.
Später rief sie ihre Nichte noch an.
»Ich muß es dir doch noch sagen, Ariane, daß mir jetzt nicht mehr bange um deine Zukunft ist, nachdem ich Herrn Schilling kennengelernt habe«, sprach sie mit Wärme.
»Ihr habt euch gleich gut verstanden, das habe ich gemerkt«, gab Ariane zurück. »Ich bin froh darüber. Du bist ja nicht nur meine Tante, sondern auch meine beste Freundin.«
»Eine wesentlich ältere Freundin«, lächelte Irene. »Aber als solche darf ich dir auch noch sagen, daß bei Gerhard bestimmt nicht nur der Verstand eine Rolle spielt bei eurer Verbindung, meine liebe gute Ariane. Er hat dich zweifellos sehr gern – um es vorsichtig auszudrücken.«
Einen Augenblick war Stille am anderen Ende der Leitung.
»Deshalb werden wir auch freundschaftlich miteinander umgehen können«, sagte Ariane. »Das ist unter diesen Umständen schon viel. Es wird auch seine Eltern beruhigen. Morgen wird Gerhard mich seiner Familie vorstellen. Ich wünschte, ich hätte es schon hinter mir.«
»Sei nicht kleinmütig«, redete die Tante ihr zu. »Sie werden bestimmt nett zu dir sein.«
*
Es war gut, daß Anja dabei war, die mit der Unbefangenheit ihrer sechzehn Jahre der Besucherin gegenübertrat. Sie fand, daß diese