So beschließt Nuñez de Balboa, auf die von Spanien erbetenen tausend Mann für die Eroberung des unbekannten Ozeans nicht zu warten und ebensowenig auf das Eintreffen der Gerichtspersonen. Lieber mit wenigen gleich Entschlossenen das Ungeheure wagen! Lieber in Ehren sterben für eines der kühnsten Abenteuer aller Zeiten, als schmachvoll mit gebundenen Händen auf das Schafott geschleift zu werden. Nuñez de Balboa ruft die Kolonie zusammen, erklärt, ohne die Schwierigkeiten zu verschweigen, seine Absicht, die Landenge zu überqueren und fragt, wer ihm folgen wolle. Sein Mut ermutigt die andern. Hundertneunzig Soldaten, beinahe die ganze wehrfähige Mannschaft der Kolonie, erklären sich bereit. Ausrüstung ist nicht viel zu besorgen, denn diese Leute leben ohnehin in ständigem Krieg. Und am 1. September 1515 beginnt, um dem Galgen oder dem Kerker zu entfliehen, Nuñez de Balboa, Held und Bandit, Abenteurer und Rebell, seinen Marsch in die Unsterblichkeit.
[82]Unvergänglicher Augenblick
Die Überquerung der Landenge von Panama beginnt in jener Provinz Coyba, dem kleinen Reich des Kaziken Careta, dessen Tochter Balboas Lebensgefährtin ist; Nuñez de Balboa hat, wie sich später erweisen wird, nicht die engste Stelle gewählt und durch diese Unwissenheit den gefährlichen Übergang um einige Tage verlängert. Aber für ihn mußte es vor allem wichtig sein, bei einem solchen verwegenen Abstoß ins Unbekannte für Nachschub oder Rückzug die Sicherung eines befreundeten Indianerstammes zu haben. In zehn großen Kanus setzt die Mannschaft von Darien nach Coyba über, hundertneunzig mit Speeren, Schwertern, Arkebusen und Armbrüsten ausgerüstete Soldaten, begleitet von einer stattlichen Rotte der gefürchteten Bluthunde. Der verbündete Kazike stellt seine Indios als Tragtiere und Führer bei, und schon am 6. September beginnt jener ruhmreiche Marsch über den Isthmus, der selbst an die Willenskraft so verwegener und erprobter Abenteurer ungeheure Anforderungen stellt. In erstickender, erschlaffender Äquatorglut müssen die Spanier zuerst die Niederungen durchqueren, deren sumpfiger, fieberschwangerer Boden noch Jahrhunderte später beim Bau des Panamakanals viele Tausende hingemordet hat. Von der ersten Stunde an muß mit Axt und Schwert der Weg ins Unbetretene durch das giftige Dschungel der Lianen gehauen werden. Wie durch ein ungeheures grünes Bergwerk bahnen die ersten der Truppe den andern durch das Dickicht einen schmalen Stollen, den dann Mann hinter Mann in endlos langer Reihe die Armee des Konquistadoren durchschreitet, ständig die Waffen zur Hand, immer, [83]Tag und Nacht, die Sinne wachsam gespannt, um einen plötzlichen Überfall der Eingeborenen abzuwehren. Erstickend wird in der schwülen dunstigen Dunkelheit der feuchtgewölbten Baumriesen, über denen mitleidlose Sonne brennt, die Hitze. Schweißbedeckt und mit verdurstenden Lippen schleppt sich in ihren schweren Rüstungen die Truppe Meile um Meile weiter; dann brechen wieder plötzlich orkanische Regengüsse herab, kleine Bäche werden im Nu zu reißenden Flüssen, die entweder durchwatet werden müssen oder auf rasch von den Indios improvisierten schwankenden Brücken aus Bast überquert. Als Zehrung haben die Spanier nichts als eine Handvoll Mais; übernächtig, hungrig, durstig, umschwirrt von Myriaden stechender, blutsaugender Insekten, arbeiten sie sich vorwärts mit von Dornen zerrissenen Kleidern und wunden Füßen, die Augen fiebrig und die Wangen verschwollen von den surrenden Mückenstichen, ruhlos bei Tag, schlaflos bei Nacht und bald schon vollkommen erschöpft. Schon nach der ersten Marschwoche kann ein Großteil der Mannschaft den Strapazen nicht mehr standhalten, und Nuñez de Balboa, der weiß, daß die eigentlichen Gefahren ihrer erst warten, ordnet an, alle Fieberkranken und Maroden mögen lieber zurückbleiben. Nur mit den Auserlesensten seiner Truppe will er das entscheidende Abenteuer wagen.
Endlich beginnt das Terrain anzusteigen. Lichter wird der Dschungel, der nur in den sumpfigen Niederungen seine ganze tropische Üppigkeit zu entfalten vermag. Aber nun, da der Schatten sie nicht mehr schützt, glüht grell und scharf die steile Äquatorsonne auf ihre schweren Rüstungen nieder. Langsam und nur in kurzen Etappen vermögen die Ermatteten Stufe um Stufe das Hügelland zu jener [84]Bergkette emporzuklimmen, welche wie ein steinernes Rückgrat die schmale Spanne zwischen den beiden Meeren trennt. Allmählich wird der Blick freier, nächtens erfrischt sich die Luft. Nach achtzehntägigem heroischem Mühen scheint die schwerste Schwierigkeit überwunden; schon erhebt sich vor ihnen der Kamm des Gebirges, von dessen Gipfel man nach der Aussage der indianischen Führer beide Ozeane, den atlantischen und den noch unbekannten und unbenannten pazifischen, überblicken kann. Aber gerade nun, wo der zähe und tückische Widerstand der Natur endgültig besiegt scheint, stellt sich ihnen ein neuer Feind entgegen, der Kazike jener Provinz, um mit Hunderten seiner Krieger den Fremden den Durchgang zu sperren. Im Kampf mit Indios ist nun Nuñez de Balboa reichlich erprobt. Es genügt, eine Salve aus den Arkebusen abzufeuern, und wieder erweist der künstliche Blitz und Donner seine bewährte Zauberkraft über die Eingeborenen. Schreiend flüchten die Erschreckten davon, gehetzt von den nachstürmenden Spaniern und den Bluthunden. Aber statt sich des leichten Sieges zu freuen, entehrt ihn Balboa wie alle spanischen Conquistadoren durch erbärmliche Grausamkeit, indem er eine Anzahl wehrloser, gebundener Gefangener – Ersatz für Stierkampf und Gladiatorenspiel – lebend von der Koppel der hungrigen Bluthunde zerreißen, zerfetzen und zerfleischen läßt. Eine widrige Schlächterei schändet die letzte Nacht vor Nuñez de Balboas unsterblichem Tag.
Einmalige unerklärliche Mischung in Charakter und Art dieser spanischen Conquistadoren. Fromm und gläubig, wie nur jemals Christen waren, rufen sie Gott aus inbrünstigster Seele an und begehen zugleich in seinem Namen die schändlichsten Unmenschlichkeiten der Geschichte. Fähig [85]zu den herrlichsten und heroischsten Leistungen des Mutes, der Aufopferung, der Leidensfähigkeit, betrügen und bekämpfen sie sich untereinander in der schamlosesten Weise und haben doch wieder inmitten ihrer Verächtlichkeit ein ausgeprägtes Gefühl für Ehre und einen wunderbaren, wahrhaft bewundernswerten Sinn für die historische Größe ihrer Aufgabe. Derselbe Nuñez de Balboa, der am Abend zuvor unschuldige, gefesselte Gefangene wehrlos den Hetzhunden vorgeworfen und vielleicht die noch von frischem Menschenblut triefenden Lefzen der Bestien zufrieden gestreichelt, ist sich genau der Bedeutung seiner Tat in der Geschichte der Menschheit gewiß und findet im entscheidenden Augenblick eine jener großartigen Gesten, die unvergeßlich bleiben durch die Zeiten. Er weiß, dieser 25. September wird ein welthistorischer Tag sein, und mit wunderbarem spanischen Pathos bekundet dieser harte, unbedenkliche Abenteurer, wie voll er den Sinn seiner überzeitlichen Sendung verstanden.
Großartige Geste Balboas: am Abend, unmittelbar nach dem Blutbad, hat ihm einer der Eingeborenen einen nahen Gipfel gewiesen und gekündet, von dessen Höhe könne man schon das Meer, das unbekannte Mar del Sur, erschauen. Sofort trifft Balboa seine Anordnungen. Er läßt die Verwundeten und Erschöpften in dem geplünderten Dorf und befiehlt der noch marschfähigen Mannschaft – siebenundsechzig sind es noch im ganzen von den einstigen hundertneunzig, mit denen er in Darien den Marsch angetreten –, jenen Berg hinanzusteigen. Gegen zehn Uhr morgens sind sie dem Gipfel nahe. Nur eine kleine kahle Kuppe ist noch zu erklimmen, dann muß der Blick sich ins Unendliche weiten.
[86]In diesem Augenblick befiehlt Balboa der Mannschaft, Halt zu machen. Keiner soll ihm folgen, denn diesen ersten Blick auf den unbekannten Ozean will er mit keinem teilen. Allein und einzig will er für ewige Zeit der erste Spanier, der erste Europäer, der erste Christ gewesen sein und bleiben, der, nachdem er den einen riesigen Ozean unseres Weltalls, den atlantischen, durchfahren, nun auch den andern, den noch unbekannten pazifischen, erblickt. Langsam, pochenden Herzens, tief durchdrungen von der Bedeutung des Augenblicks, steigt er empor, die Fahne in der Linken, das Schwert in der Rechten, einsame Silhouette in dem ungeheuren Rund. Langsam steigt er empor, ohne sich zu beeilen, denn das wahre Werk ist schon getan. Nur ein paar Schritte noch, weniger, immer weniger, und wirklich, nun da er am Gipfel angelangt ist, eröffnet sich vor ihm ungeheurer Blick.