Abb. 2.3: Paniksystem versus Furchtsystem
Krisen sind Situationen, in denen das Paniksystem in Wechselwirkung mit dem Furchtsystem aktiviert wird. Zunächst erleben betroffene Menschen den durch die äußere Belastung entstandenen Stress als zu massiv und nicht bewältigbar. Sie reagieren panisch und fühlen sich ohnmächtig. Sie stellen sich quasi tot und erstarren. Sie benötigen dringend Hilfe, sind aber unter Umständen gar nicht in der Lage, diese anzunehmen. Dabei wirken sie nach außen hin vielleicht ganz normal, sind aber innerlich in höchstem Maße erregt. In solchen Situationen kann man nicht in Ruhe nachdenken und reflektieren und schon gar nicht gezielt handeln. Das Fühlen, Denken und Handeln ist darauf ausgerichtet, diesen Zustand zu beenden. Man spricht in der Krisentheorie von einer Schockphase. Im günstigen Fall weicht die Panik der Furcht, die Situation wird handhabbarer, man ist phasenweise in der Lage, Konstruktives zu tun. Krisen sind Situationen, in denen man besonders offen ist für Veränderungen, sofern die Intensität des Stresses eine gewisse, individuell sehr variable Grenze nicht überschreitet. Wenn man auf gute Bindungserfahrungen zurückgreifen kann, ist man eher bereit, Hilfe anzunehmen und Neues auszuprobieren, d. h. man lernt dann oft überraschend schnell hinzu. Der Chancencharakter der Krise wird genutzt. In den Phasen, in denen der Stress wieder zu groß wird und Bewältigungsversuche fehlschlagen, kann es sein, dass der Überblick abermals verloren geht, die Symptome wieder zunehmen und man unter Umständen auch wieder auf destruktive Bewältigungsstrategien zurückgreift. In diesen Phasen lernt man nichts Konstruktives, unter Umständen sogar falsche Dinge. Man hat es in Krisen also mit einer Abfolge von unterschiedlichen Episoden mit variablem Belastungsgrad zu tun, die allerdings nicht linear, sondern eher immer wieder durchlaufen werden und mit immer neuen Versuchen der Bewältigung einhergehen. Sind diese erfolglos, ist es möglich, dass wichtige Ziele aufgegeben werden. Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und damit die Tendenz, bestimmten Herausforderungen aus dem Weg zu gehen. Damit bringt man sich aber um die Chance, zu reifen und sich weiter zu entwickeln.
2.3.4 Das Beziehungsangebot in der Krisenintervention aus neurowissenschaftlicher Sicht
Menschen neigen in Krisen dazu aus Angst, Verzweiflung oder Wut spontan zu agieren. Daran sind vor allen Dingen die tiefen limbischen Hirnareale beteiligt. Es wird schnell, aber unreflektiert entschieden. Das rationale Denken ist lahmgelegt. Man ist am Höhepunkt einer Krise oft geradezu unfähig, vernünftig zu reagieren und konstruktive Bewältigungsstrategien zu aktivieren. In einer solch verzweifelten Situation suchen viele ein Gegenüber, mit dem sie in Beziehung treten können und das in der Lage ist, Emotionen und Vernunft zu integrieren. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer (persönliche Mitteilung 2018) definiert Akzeptanz, Zugehörigkeit, Fairness und Gehört-Werden als neuronal verankerte Grundbedürfnisse des Menschen. Durch interpersonelle Resonanz wird das Selbst gestärkt. Er meint, dass auch aus neurobiologischer Sicht das Zuhören, die Möglichkeit, sich auszudrücken, achtsames Sprechen und das Erkunden, woran Menschen im tiefsten Herzen glauben (»self affirmation«), entscheidend für eine konstruktive Krisenbewältigung sind. Das bestätigt also, von welch entscheidender Bedeutung ein tragfähiges Beziehungsangebot in der Krisenintervention ist.
2.4 Symptome
Typischerweise ist eine Krise auch ein komplexes psychosomatisches Geschehen. Symptome können als Anpassungsversuche an eine subjektiv unerträgliche Situation verstanden werden. Die psychische Symptomatik kann die gesamte Psychopathologie umfassen, vom neurotischen Pol bis hin zu psychotischen Erscheinungen. Grundsätzlich lassen sich auch letztere als Zeichen der Überforderung eines verletzbaren Verarbeitungssystems verstehen (Ciompi 1993). Besonders häufig finden sich Angst-, Erregungs- und Spannungszustände, sowie depressive Verstimmungen (
Ebenso vielschichtig können die somatischen Begleitsymptome sein. Diese reichen von Schlafstörungen über gastrointestinale Probleme bis hin zu dermatologischen Leiden und sind nicht selten der primäre Grund, weshalb Menschen Hilfe suchen (
Kasten 2.6: Psychische Symptome von Krisen, nach Schweregrad hierarchisch geordnet (vgl. Ciompi 1993)
• Erhöhte Spannung, Nervosität, Aufregung
• Unsicherheit, Ängstlichkeit, Erregung
• Irritation, Aggressivität oder Autoaggressivität, Depressivität
• Verwirrtheit, zunehmend inadäquates Verhalten
• Depersonalisations- und Derealisationserscheinungen
• Wahn, Beziehungs- und Verfolgungsideen
• Halluzinationen
2.5 Diagnostik
Eine akute psychosoziale Krise ist primär kein krankhafter Zustand. Daher findet sich der Begriff auch nicht in den gängigen Diagnosemanualen, wie dem ICD-10 (Dilling et al. 1993) oder dem DSM IV. Auf der deskriptiven Diagnoseebene im ICD-10 werden krisenhafte Zustände noch am ehesten durch die Kategorien akute Belastungsreaktion (F43.0) und Anpassungsstörung (F43.2) erfasst. Entscheidend für die Diagnosestellung ist der zeitliche Zusammenhang zwischen einem außergewöhnlich belastenden Lebensereignis oder einer besonderen Veränderung im Leben und der Symptomentstehung. Unter belastenden Lebensereignissen werden neben Verlusten auch überwältigende traumatische Erlebnisse subsumiert. Die Diagnosekriterien für die Posttraumatische Störung werden in Kapitel 3.3.2 beschrieben (
Kasten 2.7: Akute Belastungsreaktion F 43.0 (ICD-10 1993)
• Es muss ein unmittelbarer und klarer zeitlicher Zusammenhang zwischen einer ungewöhnlichen Belastung und dem Beginn der Symptome vorliegen. Die Reaktion beginnt innerhalb weniger Minuten, wenn nicht sofort.
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