Gesetzt, Sie kandidierten für ein öffentliches Amt und wären überzeugt davon, daß die Wahl ihres Opponenten geradezu eine Katastrophe wäre, daß er sich als skrupelloser Demagoge erweisen wird, der nur die Durchsetzung weniger Partikularinteressen im Auge hat und gewillt ist, die Rechte aller, die sich ihm in den Weg stellen, mit Füßen zu treten; und ferner wären Sie davon überzeugt, daß es Ihnen mit konventionellen Mitteln unmöglich ist, ihn zu schlagen. Stellen Sie sich nun vor, Ihnen ständen eine Reihe unkonventioneller Mittel zur Verfügung: Sie wären im Besitz von Informationen über sein Sexualleben, deren Veröffentlichung zu einem Skandal führen würde; oder Sie hätten erfahren, daß seine Frau Alkoholikerin ist, oder daß er in jungen Jahren für kurze Zeit Mitglied einer geächteten politischen Partei war, und wären der Meinung, daß man diese Informationen benutzen könnte, ihn zu erpressen, seine Kandidatur zurückzuziehen; oder Ihnen stünde eine Gruppe von Helfern zur Verfügung, die bei einer ausreichenden Anzahl seiner Anhänger am Wahltag die Reifen zerstechen könnten; oder Sie hätten die Möglichkeit, Stimmen zu fälschen; oder noch viel einfacher: Sie könnten ihn schlicht aus dem Weg räumen lassen. Angenommen, diese Methoden führten zu einem eminent erstrebenswerten Resultat, was wäre dann gleichwohl noch unrecht an ihnen?
Natürlich eine ganze Menge: Einige dieser Taten sind rechtswidrig; einige verletzten die Regeln einer Wahl, denen Sie durch Ihre Teilnahme doch wohl verpflichtet sind; einige könnten, was auch nicht ganz unwichtig ist, auf Sie selbst zurückfallen, und es liegt ja im Eigeninteresse aller Kandidaten, sich an die stillschweigende Konvention zu halten, bestimmte persönliche Bereiche aus dem Wahlkampf auszuklammern. Doch ist das noch nicht alles. Wir haben darüber hinaus das Gefühl, daß diese Maßnahmen, die ganze Art und Weise wie angegriffen wird, im Grunde nichts damit zu tun haben, worum es im Kampf zwischen Ihnen und Ihrem Opponenten geht; daß Sie sich, wenn sie von Ihnen ergriffen werden, nicht gegen das an ihm richten, was ihn zum Gegenstand Ihrer Opposition macht. Sie richten Ihre Angriffe dann nicht gegen das wahre Moment, das ihn zu Ihrem Feind macht, sondern gegen etwas Irrelevantes, das weiter abseits liegt, sich aber als sein wunder Punkt herausstellt.
Dasselbe gilt für Kämpfe oder Streitigkeiten, die nicht in den Rahmen eines Regelwerks oder Systems von Gesetzen eingebettet sind. So ist es etwa, wenn Sie sich mit dem Taxifahrer über den überhöhten Fahrpreis streiten, nicht angebracht, ihn wegen seiner Aussprache lächerlich zu machen, die Luft aus den Reifen zu lassen oder Kaugummi über die Windschutzscheibe zu schmieren; und dies bleibt auch dann noch unangezeigt, wenn er seinerseits es ist, der abfällige Bemerkungen über Ihre Rasse, Weltanschauung oder Religion macht, oder wenn er den Inhalt Ihres Koffers auf die Straße schüttet.6
Die Bedeutung solcher Restriktionen mag mit der Wichtigkeit des jeweiligen Falles variieren, und was in dem einen Fall nicht zu rechtfertigen ist, kann in einer extremeren Lebenslage vielleicht angebracht sein. Aber alle diese Restriktionen leiten sich von einem einzigen Grundsatz her: Feindseligkeit und Aggression haben sich auf ihr wahres Objekt zu richten. Das heißt sowohl, daß sie sich gegen den oder die Menschen zu richten haben, die sie ausgelöst haben, als auch, noch konkreter, daß sie sich dort nur auf das richten dürfen, was sie hervorgerufen hat. Und es ist diese zweite Bedingung, die festlegt, welche Form dann die Feindseligkeit annehmen darf, soll sie angemessen sein.
Es ist offensichtlich, daß diesem Grundsatz eine bestimmte Auffassung davon zugrunde liegt, in welcher Beziehung man prinzipiell zu einem anderen Menschen zu stehen hat, doch fällt es schwer, diese Auffassung explizit zu machen. Ich glaube, sie lehrt ungefähr folgendes: Was immer man einem anderen Menschen vorsätzlich antut, muß auf ihn als Subjekt zielen, und dies mit der Absicht, daß er es als Subjekt erlebt. Es sollte eine Einstellung ihm gegenüber, manifestieren, nicht nur gegenüber der Situation, und er sollte dies auch erkennen und sich als ihr Objekt identifizieren können. Die Verhaltensweisen, in denen sich eine derartige Einstellung ausdrückt, brauchen sich nicht unmittelbar an die Person zu wenden. Jemanden zu operieren, ist beispielsweise nicht eine Form aggressiver persönlicher Konfrontation, sondern gehört zu einer ärztlichen Behandlung, die dem Patienten von Angesicht zu Angesicht zuteil werden kann und von diesem als Reaktion auf seine Not, als natürliche Folge einer Einstellung ihm gegenüber verständig angenommen werden kann.
Feindseligkeiten richten sich, anders als chirurgische Eingriffe, direkt gegen einen Menschen, ohne daß sich ihre zwischenmenschliche Bedeutung erst aus einem weiteren Kontext ergeben müßte. Aber andererseits kann feindliches Verhalten auch nur dazu dienen, eine begrenzte Anzahl von Einstellungen der angegriffenen Person gegenüber auszudrücken oder zu verwirklichen. Diese Einstellungen wiederum beziehen sich auf bestimmte reale oder vermeintliche Eigenschaften respektive Handlungen des Betreffenden, aufgrund derer sie als gerechtfertigt angesehen werden. Fehlt dieser Hintergrund, kann es schwerlich noch Intention des feindseligen oder aggressiven Verhaltens sein, daß der Betroffene es als Subjekt erlebt. Es nimmt dann vielmehr den Charakter eines rein bürokratischen Vollzugs an. Dies ist der Fall, sobald wir jemanden angreifen, der nicht das wirkliche Objekt unserer Feindschaft ist – sei es, daß unser eigentlicher Feind ein anderer ist, den wir über unser Opfer mit attackieren können, oder sei es, daß wir erst gar keiner Feindschaft mit wem auch immer Ausdruck verleihen, sondern nur den Weg des geringsten Widerstands einschlagen, um einen erwünschten Zweck zu erreichen. Wir richten uns dann gar nicht an unser Opfer, wir wenden uns nicht ihm zu, sondern machen bloß etwas mit ihm – ohne daß, wie beim chirurgischen Eingriff, der weitere Kontext zwischenmenschlicher Interaktion hinzukäme.
Um seinen Prioritätsanspruch vor utilitaristischen Erwägungen nicht einzubüßen, muß der Absolutismus den Standpunkt vertreten, daß es dermaßen unerläßlich sei, daran festzuhalten, auf Menschen, mit denen man zu tun hat, direkt und zwischenmenschlich zu reagieren, daß keinerlei Vorteil je eine Verletzung dieser vorrangigen Regel rechtfertigen könnte. Die Aufforderung ist nur dann absolut, wenn sie jegliche Kalkulation ausschließt, wann ihre Mißachtung womöglich gerechtfertigt wäre. Ich habe weiter oben angemerkt, daß es umgekehrt auch Extremfälle geben mag, in denen es uns verunmöglicht wird, noch einen absolutistischen Standpunkt einzunehmen. Man wird dann feststellen, daß einem schlicht keine andere Wahl bleibt, als etwas Schreckliches zu tun. Und doch behält ja sogar in solchen Fällen der Absolutismus noch sein Gewicht, insofern er es uns unmöglich macht, unseren Verstoß gegenüber anderen zu rechtfertigen. Wir haben auch dann nicht recht getan.
In einem ersten Erklärungsanlauf werde ich versuchen, die absolutistischen Beschränkungen mit der Möglichkeit in Zusammenhang zu bringen, dem Opfer gegenüber zu rechtfertigen, was man ihm antut. Gibt man einen Menschen auf, um eine Reihe anderer aus einem brennenden Haus oder sinkenden Schiff zu retten, könnte man zu ihm sagen: »Verstehe doch bitte, ich muß dich jetzt hier zurücklassen, um die anderen zu retten.« Ebenso kann man einem widerspenstigen Kind, das man einer schmerzhaften Operation unterzieht, sagen: »Wärst du schon heute verständig genug, würdest du einsehen, daß es nur zu deinem Besten geschieht.« Ja man könnte sogar, während man einem feindlichen Soldaten das Bajonett in den Bauch stößt, sagen: Du oder ich! Doch man kann nicht wirklich, während man einen Gefangenen foltert, sagen: »Verstehe doch bitte, ich muß dir nun mal die Fingernägel ausreißen, weil es unbedingt notwendig für uns ist, die Namen deiner Komplizen zu erfahren«; noch könnte man den Opfern von Hiroshima sagen: »Ihr versteht doch sicherlich, wir mußten euch leider verbrennen, um die japanische Regierung schließlich und endlich zur Kapitulation zu erpressen.«
Natürlich bringt uns das nicht sehr viel weiter, weil ja ein Utilitarist vermutlich in Fällen, in denen er eine Rechtfertigung der letztgenannten Art überhaupt für ausreichend hält,