Bei dieser Gelegenheit hat Hans Poerschke nicht nur erzählt, warum Luhmann, Habermas oder Popper kein Ersatz für Marx waren, sondern auch berichtet, wie dieses Buch entstanden ist:
»Ich bin ein Anhänger Lenins gewesen. Wer von den Sektionsangehörigen hier ist, der weiß das noch sehr gut. Ich galt da (zu Unrecht freilich) als eine Art Papst. Eines Tages bin ich mit dem Anliegen konfrontiert worden, für das historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus den Artikel ›Parteipresse‹ zu schreiben. Das war Anfang der 1990er-Jahre. In meinem jugendlichen Leichtsinn dachte ich mir: Wer hat sich mehr mit der Parteipresse beschäftigt als wir? Ich habe ohne Bedenken zugesagt. Der Artikel ist bis heute nicht geschrieben. Nachdem ich angefangen habe, mich damit zu beschäftigen, bin ich erst dahintergekommen, wie bescheiden meine eigene Position war. Ich habe das erste Mal in meinem Leben Lenin tatsächlich gelesen, in einem Umfang, wie ich das vorher nie gedacht hätte. Ich habe gemerkt, dass das wenige, was wir hatten und was dazu noch über Stalin auf uns gekommen war, ein schwächlicher Aufguss war und in vielerlei Hinsicht eine Verfälschung. Ich möchte das mit einer Formulierung von Wolfgang Ruge sagen, einem Historiker der DDR, der die erste große Lenin-Biografie nach der Wende geschrieben hat. Die Überschrift seines Buches lautet: ›Lenin: Vorgänger Stalins‹.viii Es war mühselig, über all die Jahre dahinterzukommen, dass dort die Wurzeln liegen und worin sie bestehen«.
Ich bin froh, dass Hans Poerschke nicht aufgegeben hat. Ich bin froh, dass Herbert von Halem, der Verleger, das Manuskript in sein Programm aufgenommen hat und so einen Denker in die Kommunikationswissenschaft zurückbringt, der für die Fachgemeinschaft fast schon verloren war. Ich bin auch deshalb froh, weil ich weiß, wie wichtig konzeptionell-theoretisches Arbeiten für unsere Vorstellungen von Medien, Öffentlichkeit und Journalismus ist, und weil ich Argumente brauche, wenn meine Doktoranden weiter von Lenin schwärmen sollten.
Michael Meyen
München, Mai 2020
iHANS POERSCHKE: Ich habe gesucht. In: MICHAEL MEYEN; THOMAS WIEDEMANN (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/hans-poerschke [5. Mai 2020].
iiVgl. HANS POERSCHKE: Sozialistischer Journalismus. Ein Abriss seiner theoretischen Grundlagen. Manuskript, mehrere Teile. Karl-Marx-Universität Leipzig: Sektion Journalistik 1988/89
iiiVgl. GÜNTHER RAGER: Journalisten brauchen Forschung und Statistik. In: MICHAEL MEYEN; THOMAS WIEDEMANN (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/rager-interview/ [5. Mai 2020].
ivHANS POERSCHKE: Gedanken für die Gründungskommission, Mai 1991. In: Universitätsarchiv Leipzig, Sektion Journalistik 25, Bl. 71-75
vVgl. MICHAEL MEYEN: Abwicklung und Neustart. In: MICHAEL MEYEN; THOMAS WIEDEMANN (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/abwicklung/ [5. Mai 2020]
viVgl. MICHAEL MEYEN: Von der Sozialistischen Journalistik zum Viel-Felder-Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft. In: ERIK KOENEN (Hrsg.): Die Entdeckung der Kommunikationswissenschaft. 100 Jahre kommunikationswissenschaftliche Fachtradition in Leipzig: Von der Zeitungskunde zur Kommunikations- und Medienwissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2016, S. 246-274
viiMICHAEL MEYEN: Leipzig nach der Wende: Michael Meyen: Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel? In: MICHAEL MEYEN; THOMAS WIEDEMANN (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/landnahme/ [5. Mai 2020]
viiiWOLFGANG RUGE: Lenin: Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz 2010
1.EINLEITUNG
Jede soziale und politische Bewegung, die heute und künftig gegen die von der herrschenden Politik in den Ländern des Kapitals für sich reklamierte Alternativlosigkeit Alternativen zu bestehenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen Strategien und Verhältnissen entwickeln, verbreiten und durchsetzen will, steht vor der Notwendigkeit, die vom herrschenden Mediensystem mit der veröffentlichten Meinung um alle ernsthaften alternativen Vorhaben errichtete Mauer zu durchbrechen, wenn sie in der Gesellschaft zu Gehör kommen, ja auch nur selbst eine bestimmte Größe überschreiten will.
In der Geschichte der politischen Parteien ist diese Lebensfrage über viele Jahrzehnte in Gestalt der Parteipresse beantwortet worden, einer Presse, die als publizistisches Organ einer Partei fungiert, auf deren Programm und politische Taktik verpflichtet ist, von ihr finanziert und kontrolliert wird, mehr oder weniger eng mit ihr organisatorisch verbunden ist.1 Die Bindung zwischen bürgerlicher Presse und Parteien war überwiegend relativ locker und historisch von kürzerer Dauer, da die privatwirtschaftliche Organisation der Presse flexiblere, massenwirksamere und dazu noch profitable Möglichkeiten zur Vertretung bürgerlicher Klasseninteressen bot. Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts war die Zeit der bürgerlichen Parteipresse abgelaufen. In der Arbeiterbewegung hingegen war die Bindung enger – die Anstrengung, eine eigene Presse materiell zu tragen, den Vertrieb zu bewältigen, Journalisten den Lebensunterhalt zu ermöglichen, war nur von einer Organisation mit opferbereiten Mitgliedern zu leisten. Zugleich entstand auch eine Abhängigkeit der Partei von ihrer Presse. Sie musste darauf bauen können, dass unter sich ständig verändernden Umständen sowie unter dem Druck einer an Kräften, Mitteln und Masseneinfluss überlegenen bürgerlichen Umwelt ihre Grundsätze in ihren Blättern konsequent vertreten wurden, dass sie also als eine unverwechselbare politische Kraft in der Öffentlichkeit wahrnehmbar war.
Unterschiedliche Interessen, Blickwinkel und Auffassungen wirkten unvermeidlich im Verhältnis von Partei und Presse als Widersprüche zwischen Ansprüchen von Leitungen und Parteibasis, Mehrheit und Minderheit, zwischen der für einheitliche Aktion erforderlichen Disziplin und der für die Entwicklung der Partei unerlässlichen Freiheit der Meinungsäußerung. Jeder größere innerparteiliche Konflikt erfasste auch das Verhältnis von Partei und Presse. Die alte deutsche Sozialdemokratie zum Beispiel wies eine ganze Geschichte solcher Konflikte auf, ob es sich um den Streit zwischen Reichstagsfraktion und Parteibasis um die Rolle des Züricher Sozialdemokrat anlässlich der sogenannten ›Dampfersubventionsaffäre‹ 1884/85 unter dem Sozialistengesetz handelte, um die Auseinandersetzung mit der Mitarbeit sozialdemokratischer Journalisten an der bürgerlichen Presse zur Zeit des Dresdener Parteitags 1903 und mit der ›Literatenrevolte‹ in der Vorwärts-Redaktion 1904/05 oder um die Konflikte zwischen Parteivorständen und regionalen Parteiorganisationen um die Verfügung über die Schwäbische Tagwacht 1914 und den Vorwärts 1916, bei denen es um die Haltung zum Krieg und das Verhalten in ihm ging. Nicht erstaunlich also, dass das Verhältnis von Partei und Presse bzw. Journalisten häufiger, wenn nicht ständiger Diskussionsgegenstand war, und dass von den Anfängen einer selbständigen Arbeiterbewegung an alle Schritte der Organisationsentwicklung auch Regelungen dieses Verhältnisses einschlossen.
Von einem Fall einer solchen Regelung soll im folgenden die Rede sein. Es handelt sich um Lenins Artikel Parteiorganisation