»Was hat denn der mit dem Fall zu schaffen?« fragte der Mann, mit dem er früher gesprochen hatte.
»Will des Henkers sein, wenn ich's weiß.«
Das Eintreten des Richters und das darauf folgende Geräusch, bis das Gerichtspersonal wieder Platz genommen, unterbrach dieses Zwiegespräch. Fortan wurde der Gefangenenverschlag der Hauptanziehungspunkt. Zwei Gefängniswärter, die dort gestanden hatten, gingen hinaus, führten den Angeklagten herein und stellten ihn vor die Gerichtsschranke.
Alle Anwesenden, mit Ausnahme des beperückten Herrn, der die Saaldecke betrachtete, starrten ihn mit großen Augen an. Jeder menschliche Atem in dem Raume wogte ihm wie ein Meer, ein Wind oder ein Feuer zu. Begierige Gesichter drängten sich um Säulen und Ecken, um seiner ansichtig zu werden; Zuschauer in den hinteren Reihen standen auf, um ja kein Haar von ihm zu verlieren. Leute in dem Parterre des Saals legten ihre Hände auf die Schultern ihrer Vordermänner, um sich auf irgend jemandes Kosten zu dem Anblick zu verhelfen; man stand auf den Zehen, suchte die Unterstützung von Leisten und stemmte sich sogar in die Höhe, um jeden Zoll von ihm zu sehen. Unter den letzteren stand Jerry wie ein lebendiges Stückchen von der mit Spitzeisen bewaffneten Newgate-Mauer und strömte in die Richtung des Gefangenen (er hatte nämlich im Herweg seinen Schnabel angefeuchtet) seinen Bieratem aus, auf daß er Bekanntschaft mache mit den wogenden Dünsten anderen Biers, Branntweins, Tees, Kaffees und so weiter, die dem Gegenstand des gemeinsamen Interesses zufluteten und an den großen Fenstern hinter ihm sich in der Form eines unreinen Nebels und Regens brachen.
Der Zielpunkt alles dieses Gaffens und Starrens war ein wohlgewachsener, gutaussehender junger Mann von ungefähr fünfundzwanzig Jahren, mit sonnverbrannten Wangen und dunklen Augen, der den besseren Ständen angehörte. Er war einfach in Schwarz oder Dunkelgrau gekleidet, und sein dunkles Haar wurde mehr um der Bequemlichkeit als um der Zierde willen an der Hinterseite seines Kopfes durch ein Band zusammengehalten. Wie eine Erregung des Geistes sich durch jede Hülle des Körpers bemerklich macht, so erkannte man die Blässe, die seiner Lage natürlich war, durch das Braun der Wange, zum Beweis, daß die Seele kräftiger ist als die Sonne. Im übrigen zeigte er eine vollkommene Fassung: er verbeugte sich gegen den Richter und blieb ruhig stehen.
Das Interesse, mit dem dieser junge Mann angegafft und angeatmet wurde, gereichte der Menschheit nicht eben zur Ehre. Wäre er nicht von einem so schrecklichen Urteil bedroht worden und wäre die Aussicht vorhanden gewesen, daß er mit einem oder dem andern Teil des grausamen Verfahrens verschont bleiben könnte, so hätte seine Persönlichkeit bedeutend an Reiz verloren. Die Gestalt, die so schändlich zerstückt werden sollte, war eine Augenweide, das unsterbliche Geschöpf, dem eine so entsetzliche Schlachtbank bevorstand, ein Kitzel für die Empfindung. Welchen Anstrich auch die verschiedenen Zuschauer nach Maßgabe der Kraft und Kunst ihrer Selbsttäuschung ihrem Interesse an dem Schauspiel beilegen mochten, seiner Grundwesenheit nach war es blutdürstig.
Stille im Gerichtssaal! Charles Darnay hatte sich für »Nicht schuldig« gegen eine Anklage erklärt, die ihm unter endlosem Geklingel und Geklapper zur Last legte, er sei ein falscher Verräter gegen unseren durchlauchtigsten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort Fürsten, unsern Herrn, den König, weil er bei verschiedenen Gelegenheiten und auf unterschiedliche Weise dem französischen König Ludwig Beistand geleistet habe in seinen Kriegen und so fort; und zwar durch Ab- und Zugehen zwischen den Domänen unseres besagten, hochmächtigsten, erhabenen und so fort und denen des besagten französischen Ludwig in der boshaften, falschen, verräterischen und anderweitig hochverdächtigen Absicht, dem besagten französischen Ludwig zu enthüllen, welche Streitkräfte unser besagter, durchlauchtigster, hochmächtigster, erhabener und so fort nach Kanada und Nordamerika zu senden sich anschicke. So viel wenigstens fand Jerry, dessen Kopf unter den juridischen Ausdrücken immer spießiger wurde, mit großer Selbstbefriedigung heraus, wie er denn auch auf Umwegen zu dem Verständnis kam, daß der vorbesagte und aber- und abermal vorbesagte Charles Darnay hier vor Gericht stand, daß die Jury beeidigt wurde und daß der Herr Staatsanwalt sich anschickte, seinen Vortrag zu halten.
Der Angeschuldigte wußte recht wohl, daß er von jedem der Anwesenden im Geiste bereits als gehangen, enthauptet und gevierteilt betrachtet wurde. Trotzdem zagte er nicht vor seiner Lage und nahm ebensowenig ein theatralisches Wesen an. Er verhielt sich ruhig und aufmerksam, folgte dem Gang der Verhandlungen mit ernster Teilnahme und stand, die Hände auf den Sims seines Verschlags gestützt, so gefaßt da, daß auch nicht ein Blättchen von den darauf liegenden Kräutern verrückt wurde. Durch den ganzen Gerichtssaal waren dergleichen medizinische Pflanzen, die man noch obendrein mit Essig besprengt hatte, als Vorbeugungsmittel gegen Gefängnisluft und Nervenfieber ausgestreut.
Zu den Häupten des Gefangenen befand sich ein Spiegel, der das Licht auf ihn niederwarf. Scharen von Unglücklichen und Verworfenen haben sich schon darin bespiegelt und sind ebenso von seiner Fläche weg wie überhaupt von der Erde verschwunden. Das Dock müßte zum entsetzlichsten Spukplatz werden, wenn jener Spiegel je die in ihm reflektierten Gestalten nach Art des Meeres, das eines Tages seine Toten wieder ausfolgen wird, wieder zurückgeben könnte. Ein flüchtiger Gedanke an die Schmach und Entehrung, die durch die künstliche Bestrahlung beabsichtigt wurde, schien dem Angeklagten durch den Sinn zu gehen; denn als er bei einer zufälligen Veränderung seiner Stellung den Lichtschein über sich bemerkte, überflog beim Aufschauen sein Antlitz ein tiefes Rot, und seine Rechte schob die Kräuter beiseite.
Bei dieser Bewegung drehte sich sein Gesicht zufällig nach links. Ungefähr in gleicher Höhe mit seinen Augen saßen in dem Winkel der Gerichtsbank zwei Personen, auf denen sein Auge alsbald haften blieb. Dies geschah so plötzlich und mit einer so merklichen Veränderung in seinem Wesen, daß alle bisher ihm zugewandten Blicke ihm jetzt in dieser Richtung folgten.
Die Zuschauer entdeckten in den beiden Personen ein junges Frauenzimmer von wenig mehr als zwanzig und einen Herrn, der unverkennbar ihr Vater war. Dieser fiel namentlich auf durch das schneeige Weiß seiner Haare und durch einen gewissen unbeschreiblichen Ausdruck von Spannung in seinem Gesicht, der weniger einem tatkräftigen Affekt, als einem in sich gekehrten Brüten zu entstammen schien. Wenn dieser Ausdruck auf ihm lagerte, so sah er sehr alt aus; wich er aber für einige Augenblicke, wie dies zum Beispiel eben jetzt geschah, als er mit seiner Tochter sprach, so zeigte er sich als einen schönen, noch in der Vollkraft des Lebens stehenden Mann.
Die neben ihm sitzende Tochter hatte ihre eine Hand in seinen gebogenen Arm und die andere auf die Rückenfläche dieses Armes gelegt, auch aus Furcht vor dem bevorstehenden Auftritt und in ihrem Mitleid für den Gefangenen sich dicht an ihn angeschmiegt. Auf ihrer Stirn sprach sich ein unnennbarer Schmerz und eine Teilnahme aus, die für nichts weiter einen Sinn hatte als für die Gefahr des Gefangenen. Diese Züge taten sich so mächtig und naturgetreu kund, daß die Gaffer, die kein Mitleid für den Angeklagten hatten, doch für sie einiges empfanden, und das Geflüster ging im Kreise herum: »Wer sind sie?«
Jerry, der Aushelfer, der sich nach seiner Art seine Gedanken gemacht und dabei eifrig den Rost von seinen Fingern gesaugt hatte, streckte seinen Hals aus, um zu hören, wer sie wären. Das Gedränge um ihn her hatte durch Weitergeben die Frage allmählich bis zu dem nächsten Gerichtsdiener gebracht, und in derselben Wellenbewegung war die Antwort langsam zurückgekommen, bis sie endlich auch an Jerry gelangte:
»Zeugen.«
»Für welche Partei?«
»Gegen.«
»Gegen wen?«
»Gegen den Gefangenen.«
Der Richter hatte seine Blicke die allgemeine Richtung einschlagen lassen, jetzt aber wieder zurückgerufen; er machte sich breit in seinem Sitz und sah ständig auf den Mann hin, dessen Leben in seiner Hand lag, während der Staatsanwalt sich erhob, um den Strick zu drehen, das Beil zu schleifen und die Nägel in das Schafott zu hämmern.