Schön ist es auch, wenn sie mir eine Begegnung schenkt, bei der ich sie schon von weitem kommen sehe. Da ist vom Lützow- zum Nollendorfplatz die alte Avenue, die Maaßenstraße heißt. Es ist gegen Abend. Leichter Regen sprüht. Reklameschrift wandert mit Riesenlettern über der Halle der Hochbahn, aus der sie kommen wird. Ich gehe entgegen ganz langsam von Baum zu Baum, und wenn ich beinah am Platze bin, rückwärts zurück wie der Krebs, damit ich sie die ganze Strecke sehe, die sie herkommt. Sie ist in Eile, heut noch mehr als sonst, sie muss schnell viel Besorgungen machen. Besorgungen mit ihr zu machen, ist sehr interessant. Sie geht im verwirrenden Warenhaus sozusagen querfeldein auf das los, was sie braucht. Sie kann sehr verbindlich zu den aufgeschreckten Verkäuferinnen sein, aber auch, wenn’s nottut, kurz angebunden. Treffsicher durchkreuzt sie ausweichende Gegenrede. Alles geht schneller, als ich es wahrnehmen kann. Mit jeder Bewegung überholt sie mein Zuschauen. Wenn wir dann wieder auf der Straße sind, sagt sie plötzlich vor einem Haus »Auf Wiedersehn«. Geht sie die Treppe hinauf zu einem andern? Sie würde es mir vielleicht sagen, aber ich frage nicht. Sie macht gewiss kein Hehl aus dem Leben, das sie führt, sie ist von heutzutage. Aber ich möchte nicht sehr gern Bescheid wissen und vorstellen müssen.
Es ist Mittag. Wir stehn auf dem Lützowplatz. »Jetzt muss ich in die Tauentzienstraße«, sagt sie. Sie hat einen gefalteten Filzhut in der Hand wie eine kleine Muse ihr Attribut. Aber dann will sie doch lieber erst das Ufer entlanggehn. Es ist schwül und grün um uns. Die Bäume spüren ein kommendes Gewitter. Als ich sie etwas zu viel von der Seite ansehe, ist sie mit einem Schritt auf dem niederen Geländer am Rasen überm Kanal und balanciert mit rudernden Armen. Von den winzigen Lederelefanten, die sie selbst ausgeschnitten und auf ihr helles Kleid genäht hat, schwankt der, welcher auf dem Rücken ist, mit tastendem Rüssel auf und nieder. Am Dammübergang zur Budapester Straße ist sie besorgt um ihren kleinen, drahthaarigen Foxterrier, der hinter uns herläuft. Ich sehe ihre lange, magere Hand in die Luft nach ihm wie zum Greifen ausgestreckt. Mir ist, als greife sie an mein Herz. Damit sie nicht merkt, ich bin bewegt – das würde sie wohl recht komisch finden –, sag ich ihr schnell etwas Schmeichlerisches über ihr Halskettchen. »Ach mein Schmuck!« sagt sie, »Ich habe nur Christbaumschmuck, aber das soll anders werden.« Das kommt recht entschieden heraus, sie wird es gewiss noch weit bringen! Nun biegen wir in die Nürnberger Straße ein, um in die Tauentzienstraße zu kommen. Dort aber mag sie nicht gleich in das Hutgeschäft und zu den andern vielen Besorgungen, möchte mit einmal erst etwas trinken. So treiben wir weiter bis zur Kirche und hinüber zu der Terrasse des neuen Cafés. Dahin hätten wir eigentlich geradeaus gehn können. Aber es ist süß, Umwege mit ihr zu machen. Vielleicht hatte auch ihr Kurswechsel einen Sinn, der mir verborgen bleibt. Ich weiß ja nichts von ihr, gleite durch gegenwartlose Dauer mit ihrer gegenwärtigen Erscheinung, einmal in fließender Tagesluft, dann wieder abends durch den Schimmerkreis angeleuchteter Bäume am Straßenrand in unserm geliebten Berlin, das sich mit Blumenbalkonen und spiegelndem Asphalt, mit Laternen und Gesichtern an diesem seinem Kinde freut. Mag sein, es gibt viele so muntere Mädchen. Manchmal begegnet mir ein Blick, eine Gebärde anderer, die an sie gemahnen. Aber auch dann seh ich nur sie, deren Namen ich nicht nenne, er brennt mir auf der Zunge, aber ihr sollt ihn nicht wissen, und einen falschen, ausgedachten mag ich auch nicht an seiner Statt sagen.
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Frau mit Foxterrier, ca. 1922
Wenn sie weg ist, von einer Treppe, von der Tram oder aus einem Wagen noch winkt, das ist schmerzlich, dann möcht ich nachspringen, sie zurückreißen, hart am Handgelenk sie packen, rückhaltlos ihr Gewalt antun. Es ist nicht zu ertragen, dass sie weg von mir ist und bleibt doch in der Welt. Schön aber ist es, wenn sie nur weggeht, um wiederzukommen, und lässt mich warten, bis sie wiederkommt. Schön ist es, im Vorzimmer des Friseurs zu sitzen, während sie sich das Haar waschen lässt. Da sitzt man auf rotem Polster, sieht bunte Wände wie aus Pasten und Salben, Glasschränke mit schillernden Schalen, spiegelnden Flaschen, milchigen Dosen. Es ist ein eleganter Laden, ihr kennt ihn. Zur Linken hat man bei der Tür die Kasse mit der Sitzgöttin. Thronen können heut nur Kassiererinnen. Neben der stehn zwei Telefone auf dem Tisch. Immerzu kommen Kundinnen und fassen nach den Hörern. Die eine sagt: »Besorgen Sie noch Sprotten. Obst bring ich mit. Und wenn Herr Kommerzienrat aus dem Büro anruft, ich bin in einer halben Stunde zu Hause.« Die andere sagt: »Erwarte mich am Eingang der Untergrundbahn an deiner Ecke, aber um acht muss ich unbedingt fort.« Und die angestellten Fräulein laufen hin und her in schwarzen Uniformkitteln mit rotem Kragen. Eine dicke Dame möchte gern einer etwas geben, die sie gut manikürt hat, und beschreibt sie der Kassiererin. Die ruft »Elsbeth!« – »Es war nicht Elsbeth«, sagt die Dame des Hauses, die reklamehaft onduliert und kuchenschön im Vorhang erscheint, »es war Frieda.« – »Ja, so eine kleine Brünette«, sagt die Dicke und zahlt. Und hinter all dem weiß ich die, die ich liebe. Vielleicht sitzt sie in der Zelle, die ich dahinten spaltoffen sehe. Sie wird von einem der Männer in weißer Kutte behandelt, die sich so gut auf Frauenköpfe verstehen. Die Frauen lieben ihre Berührung, lieben es, dass sie sie zart und fest anfassen müssen und dabei so kühl bleiben. Ist es ihre Stimme, was ich manchmal weither zu hören meine? Bald wird sie fertig sein und erscheinen. Fast ist es schön, dass sie noch nicht da ist, dass ich ihr noch entgegendenken kann. Gegenwart ist schwer zu ertragen. Ihr andern, die ihr wisst, was ihr wollt, ihr habt es leicht mit eurem Entweder Oder.
Morgen will sie mit mir vor dem Bootshaus am Neuen See sitzen, wenn es nicht regnet. Lampen werden durch das Laub und aufs Wasser scheinen. Ich werde mich so setzen, dass ich sie viel von der Seite ansehn kann, ohne dass es sie stört. Aber nun beschreib ich euch nicht, wie sie von der Seite aussieht. Sonst erkennt ihr sie und sagt: »Die? Um die machst du dir so viel Umstände? Das liebt sie gar nicht. Lächerlich wird sie dich finden und wegschicken.« Ja, das wird sie vielleicht, aber erst darf ich noch ein paarmal auf sie warten, bis sie kommt oder wiederkommt.
Die vernünftige Nephertete
Ohne sich umzusehen, fühlte sie deutlich, dass ihr die beiden Herren nachgingen, die im Kino zwei Reihen hinter ihr gesessen hatten. Der jüngere, der große, hatte sie in den Pausen angesehen mit hungrig offenem Munde wie ein Kind, das nach einer Frucht giert. Sie ging so langsam, wie es ihr Gefühl für die guten Sitten irgend erlaubte.
Nun bog sie in die Querstraße ein und hatte nur noch hundert Schritt bis nach Hause. Wie ärgerlich, dass gerade in diesem Augenblick irgend so ein frecher Kerl, Ladenschwengel oder Friseur, herüber wechseln und sie ansprechen musste! Sie wich stolz aus und ging eilig auf ihre Tür zu. Etwas umständlich im Dunkeln tastend, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte. Aufblickend sah sie die beiden aus dem Kino vorüberkommen. Wieder sah der junge, der schlanke, sie an. Die Tür ging auf. Lisbeth trat ins Haus. Aber gerade, als sie von innen zuschließen wollte, fiel sein langer Schatten über sie. Hoch stand er vor ihr und sagte:
»Muss das sein?« – »Es ist doch schon …« flüsterte sie schräg hinauf. Wie sehr er in diesem Augenblick ihrem Ersten, dem Rolf, ähnlich sah! Ihr wurde schwach zumute.
Und dann ging sie mit den beiden in eine Likörstube, die der andre, der freundliche Dicke, kannte und wo sie einen der witzig ausgesparten Separatwinkel zwischen spanischen Wänden besetzten, nicht zu nah an der Musik.
Die beiden Freunde hatten Worte und Manieren, die ihr neu und merkwürdig waren. Man musste sich mit ihnen zusammennehmen. Für das Weltmännische hatte sie ihr Rolf erzogen, bei dem sie immer in Sorge war, ob sie es ihm auch recht machte. Aber die beiden sprachen mit ihr und miteinander von ihr, wie mit und von einer alten Bekanntschaft, fragten gar nicht nach Nam’ und Art und taten beklemmend selbstverständlich.
»Sie sieht doch aus wie die Amenophistochter«, meinte der Dicke, und dann nannten sie sie nur noch Nephertete. War das nun schmeichelhaft oder verdrießlich, als neumärkisches Beamtenkind