»Also der Prinz«, sagte Alvensleben.
»O nein, berühmter, oder doch wenigstens tagesberühmter. Der Prinz ist eine etablierte Zelebrität, und Zelebritäten, die zehn Jahre gedauert haben, sind keine mehr... Ich will Ihnen übrigens zu Hilfe kommen, es geht ins Literarische hinüber, und so möcht ich denn auch annehmen, daß uns Herr Sander das Rätsel lösen wird.«
»Ich will es wenigstens versuchen, gnädigste Frau, wobei mir Ihr Zutrauen vielleicht eine gewisse Weihekraft oder, sagen wir's lieber rundheraus, eine gewisse ›Weihe der Kraft‹ verleihen wird.«
»O vorzüglich. Ja, Zacharias Werner war hier. Leider waren wir aus, und so sind wir denn um den uns zugedachten Besuch gekommen. Ich hab es sehr bedauert.«
»Sie sollten sich umgekehrt beglückwünschen, einer Enttäuschung entgangen zu sein«, nahm Bülow das Wort. »Es ist selten, daß die Dichter der Vorstellung entsprechen, die wir uns von ihnen machen. Wir erwarten einen Olympier, einen Nektar- und Ambrosiamann, und sehen statt dessen einen Gourmand einen Putenbraten verzehren; wir erwarten Mitteilungen aus seiner geheimsten Zwiesprach mit den Göttern und hören ihn von seinem letzten Orden erzählen oder wohl gar die allergnädigsten Worte zitieren, die Serenissimus über das jüngste Kind seiner Muse geäußert hat. Vielleicht auch Serenissima, was immer das denkbar Albernste bedeutet.«
»Aber doch schließlich nichts Alberneres als das Urteil solcher, die den Vorzug haben, in einem Stall oder einer Scheune geboren zu sein«, sagte Schach spitz.
»Ich muß Ihnen zu meinem Bedauern, mein sehr verehrter Herr von Schach, auch auf diesem Gebiete widersprechen. Der Unterschied, den Sie bezweifeln, ist wenigstens nach meinen Erfahrungen tatsächlich vorhanden, und zwar, wie Sie mir zu wiederholen gestatten wollen, zu Nichtgunsten von Serenissimus. In der Welt der kleinen Leute steht das Urteil an und für sich nicht höher, aber die verlegene Bescheidenheit, darin sich's kleidet, und das stotternde schlechte Gewissen, womit es zutage tritt, haben allemal etwas Versöhnendes. Und nun spricht der Fürst! Er ist der Gesetzgeber seines Landes in all und jedem, in großem und kleinem, also natürlich auch in aestheticis. Wer über Leben und Tod entscheidet, sollte der nicht auch über ein Gedichtchen entscheiden können? Ah, bah! Er mag sprechen, was er will, es sind immer Tafeln direkt vom Sinai. Ich habe solche Zehn Gebote mehr als einmal verkünden hören und weiß seitdem, was es heißt: regarder dans le néant.«
»Und doch stimm ich der Mama bei«, bemerkte Victoire, der daran lag, das Gespräch auf seinen Anfang, auf das Stück und seinen Dichter also, zurückzuführen. »Es wäre mir wirklich eine Freude gewesen, den ›tagesberühmten Herrn‹, wie Mama ihn einschränkend genannt hat, kennenzulernen. Sie vergessen, Herr von Bülow, daß wir Frauen sind und daß wir als solche ein Recht haben, neugierig zu sein. An einer Berühmtheit wenig Gefallen zu finden ist schließlich immer noch besser, als sie gar nicht gesehen zu haben.«
»Und wir werden ihn in der Tat nicht mehr sehen, in aller Bestimmtheit nicht«, fügte Frau von Carayon hinzu. »Er verläßt Berlin in den nächsten Tagen schon und war überhaupt nur hier, um den ersten Proben seines Stückes beizuwohnen.«
»Was also heißt«, warf Alvensleben ein, »daß an der Aufführung selbst nicht länger mehr zu zweifeln ist.«
»Ich glaube, nein. Man hat den Hof dafür zu gewinnen oder wenigstens alle beigebrachten Bedenken niederzuschlagen gewußt.«
»Was ich unbegreiflich finde«, fuhr Alvensleben fort. »Ich habe das Stück gelesen. Er will Luther verherrlichen, und der Pferdefuß des Jesuitismus guckt überall unter dem schwarzen Doktormantel hervor. Am rätselhaftesten aber ist es mir, daß sich Iffland dafür interessiert, Iffland, ein Freimaurer.«
»Woraus ich einfach schließen möchte, daß er die Hauptrolle hat«, erwiderte Sander. »Unsere Prinzipien dauern gerade so lange, bis sie mit unsern Leidenschaften oder Eitelkeiten in Konflikt geraten, und ziehen dann jedesmal den kürzeren. Er wird den Luther spielen wollen. Und das entscheidet.«
»Ich bekenne, daß es mir widerstrebt«, sagte Victoire, »die Gestalt Luthers auf der Bühne zu sehen. Oder geh ich darin zu weit?«
Es war Alvensleben, an den sich die Frage gerichtet hatte. »Zu weit? Oh, meine teuerste Victoire, gewiß nicht. Sie sprechen mir ganz aus dem Herzen. Es sind meine frühesten Erinnerungen, daß ich in unserer Dorfkirche saß und mein alter Vater neben mir, der alle Gesangbuchsverse mitsang. Und links neben dem Altar, da hing unser Martin Luther in ganzer Figur, die Bibel im Arm, die Rechte darauf gelegt, ein lebensvolles Bild, und sah zu mir herüber. Ich darf sagen, daß dies ernste Mannesgesicht an manchem Sonntage besser und eindringlicher zu mir gepredigt hat als unser alter Kluckhuhn, der zwar dieselben hohen Backenknochen und dieselben weißen Päffchen hatte wie der Reformator, aber auch weiter nichts. Und diesen Gottesmann, nach dem wir uns nennen und unterscheiden und zu dem ich nie anders als in Ehrfurcht und Andacht aufgeschaut habe, den will ich nicht aus den Kulissen oder aus einer Hintertür treten sehen. Auch nicht, wenn Iffland ihn gibt, den ich übrigens schätze, nicht bloß als Künstler, sondern auch als Mann von Grundsätzen und guter preußischer Gesinnung.«
»Pectus facit oratorem«, versicherte Sander, und Victoire jubelte. Bülow aber, der nicht gern neue Götter neben sich duldete, warf sich in seinen Stuhl zurück und sagte, während er sein Kinn und seinen Spitzbart strich: »Es wird Sie nicht überraschen, mich im Dissens zu finden.«
»Oh, gewiß nicht«, lachte Sander.
»Nur dagegen möcht ich mich verwahren, als ob ich durch einen solchen Dissens irgendwie den Anwalt dieses pfäffischen Zacharias Werner zu machen gedächte, der mir in seinen mystisch-romantischen Tendenzen einfach zuwider ist. Ich bin niemandes Anwalt...«
»Auch nicht Luthers?« fragte Schach ironisch.
»Auch nicht Luthers!«
»Ein Glück, daß er dessen entbehren kann...«
»Aber auf wie lange?« fuhr Bülow sich aufrichtend fort. »Glauben Sie mir, Herr von Schach, auch er ist in der Décadence, wie soviel anderes mit ihm, und über ein kleines wird keine Generalanwaltschaft der Welt ihn halten können.«
»Ich habe Napoleon von einer ›Episode Preußen‹ sprechen hören«, erwiderte Schach. »Wollen uns die Herren Neuerer, und Herr von Bülow an ihrer Spitze, vielleicht auch mit einer ›Episode Luther‹ beglücken?«
»Es ist so. Sie treffen es. Übrigens sind nicht wir es, die dies Episodentum schaffen wollen. Dergleichen schafft nicht der einzelne, die Geschichte schafft es. Und dabei wird sich ein wunderbarer Zusammenhang zwischen der Episode Preußen und der Episode Luther herausstellen. Es heißt auch da wieder: ›Sage mir, mit wem du umgehst, und ich will dir sagen, wer du bist.‹ Ich bekenne, daß ich die Tage Preußens gezählt glaube, und ›wenn der Mantel fällt, muß der Herzog nach‹. Ich überlaß es Ihnen, die Rollen dabei zu verteilen. Die Zusammenhänge zwischen Staat und Kirche werden nicht genugsam gewürdigt; jeder Staat ist in gewissem Sinne zugleich auch ein Kirchenstaat ; er schließt eine Ehe mit der Kirche, und soll diese Ehe glücklich sein, so müssen beide zueinander passen. In Preußen passen sie zueinander. Und warum? Weil beide gleich dürftig angelegt, gleich eng geraten sind. Es sind Kleinexistenzen, beide bestimmt, in etwas Größerem auf- oder unterzugehen. Und zwar bald. Hannibal ante portas.«
»Ich glaubte Sie dahin verstanden zu haben«, erwiderte Schach, »daß uns Graf Haugwitz nicht den Untergang, wohl aber die Rettung und den Frieden gebracht habe.«
»Das hat er. Aber er kann unser Geschick nicht wenden, wenigstens auf die Dauer nicht. Dies Geschick heißt Einverleibung in das Universelle. Der nationale wie der konfessionelle Standpunkt sind hinschwindende Dinge, vor allem aber ist es der preußische Standpunkt und sein alter ego, der lutherische. Beide sind künstliche Größen. Ich frage, was bedeuten sie? welche Missionen erfüllen sie? Sie ziehen Wechsel aufeinander, sie sind sich gegenseitig Zweck und Aufgabe, das ist alles. Und das soll eine Weltrolle sein! Was hat Preußen der Welt geleistet? Was find ich, wenn ich nachrechne? Die großen Blauen König Friedrich Wilhelms I., den eisernen Ladestock, den Zopf und jene wundervolle Moral, die den Satz erfunden