Madame Eisenbahn ließ Frau Blume genau in dem Augenblick aussteigen, als der Hausbesitzer die Tür komplett öffnete. Frau Blume hatte noch nicht wieder vollständig Platz nehmen können und hing deshalb nur halb auf ihrem Bett.
„Nanu“, sagte der Hausbesitzer, „was ist denn mit der Schokolade los? Die wäre ja beinahe schon rausgefallen!“ Er griff nach Frau Blume und lachte. „Ein Glück! Ich hab ich sie noch rechtzeitig festgehalten.“
Dann verließ er das Zimmer und führte Frau Blume ins Reich des Schokoladengenießers.
„Wenn der wüsste“, zischte Madame Eisenbahn.
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4. Dezember
Inzwischen war ein neuer Tag hereingebrochen.
„Ich bin die Vierundzwanzig“, jammerte Frau Stern. „Ich möchte jetzt an meinen Platz gebracht werden.“
„Und was ist mit mir?“, fragte Frau Laterne. „Ich glaube, ich bin heute dran!“
„Heute kann nicht sein“, brummte Madame Eisenbahn. „Heute bin ich dran. Ich bin die Vier.“
„Können Sie uns dann bitte zuerst an unsere Plätze fahren?“, bat Frau Stern.
„Nee“, schnaufte Madame Eisenbahn. „So einen Stress wie gestern will ich nicht noch mal. Am Ende kommt der Besitzer genau in dem Augenblick ins Zimmer, wenn ich Sie durch die Gegend fahre.“
Mit einem Knall flog die Zimmertür auf. Der Hausbesitzer kam herein, öffnete zielsicher die Tür mit der Nummer Vier und holte Madame Eisenbahn heraus. Ohne ein weiteres Wort verschwand er.
„Weg ist sie“, hauchte Frau Ente leise.
Herr Zwerg näherte sich Frau Laterne. „Wie schön Sie leuchten. Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Ihnen das unglaublich gut steht?“
Das Licht von Frau Laterne verfärbte sich sofort rot. „Nein, noch niemand.“
Herr Zwerg setzte nach: „Ein Zwerg und eine Laterne – das wäre doch das perfekte Paar.“
Frau Laterne wiegte schüchtern ihr Laternendach. „Ach, Sie schmeicheln, Herr Zwerg.“
Frau Stern schaute nach oben: „Wenn die beiden noch mit sich selbst beschäftigt sind, könnten Sie mich doch schon mal nach oben ziehen, Frau Ente!“
Frau Ente machte ein besorgtes Gesicht. „Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Sie sind die Vierundzwanzig. Sie sind die Dickste von allen.“
„Die Dickste?!“ Frau Stern plusterte erschrocken ihre Backen auf. „O welch ein Abgrund! Die Wichtigste des ganzen Adventskalenders liegt im Keller! Und niemand ist bereit, ihr zu helfen! Wenn das die Menschen mitkriegen würden!“
Herr Lebkuchen beugte sich in seinem Bett nach vorne: „Das wäre ja noch herauszufinden, Frau Stern, ob Sie die Wichtigste im Adventskalender sind! Nur weil Sie als letztes rausdürfen, sind Sie noch lange nicht die Wichtigste!“
„Doch, als Stern bin ich das Zentrum der Weihnachtszeit!“
„Das hab ich noch nie gehört!“ Herr Lebkuchen lehnte sich wieder zurück. „Meines Wissens sind es Lebkuchen, die es hauptsächlich in der Weihnachtszeit gibt. Wenn ich richtig informiert bin, gibt es Sterne das ganze Jahr über.“
„Sie brauchen sich gar nicht so aufzublasen!“, fauchte Frau Stern zurück. „Lebkuchen sind normalerweise aus Lebkuchen und schmecken auch nach Lebkuchen. Sie dagegen sind ja bloß ein Schokoladentäfelchen, das aussieht wie ein Lebkuchen.“
„Aber Sterne sind wohl immer aus Schokolade, was?“
„Wenn es hier um die Wichtigkeit geht“, mischte sich Frau Tanne ein, „möchte ich doch mitteilen, dass ja eigentlich die Tanne in der Weihnachtszeit am wichtigsten ist. Am Heiligen Abend entlockt den Kindern nichts so sehr die berühmten leuchtenden Augen wie der festlich geschmückte Weihnachtsbaum.“
„… der allerdings völlig kahl wäre ohne Kerzen!“, ergänzte Frau Kerze, die direkt neben Frau Tanne wohnte.
Frau Tanne winkte ab. „Ach, was sind schon die Kerzen. Es gibt auch Kugeln, Lametta und anderen Schnickschnack, den man aufhängen kann.“
„Könnt ihr vielleicht mal aufhören zu streiten?“, rief Fräulein Engel dazwischen. „Es ist Weihnachtszeit! Zeit der Liebe!“
„Liebe?“, spottete Herr Schneemann von oben. „Was soll der Quatsch? Ich hab noch nie so was wie Liebe gespürt. Ich weiß nur: Wenn Geschöpfe anfangen, sich zu lieben, dann beginnen sie, sich füreinander abzurackern! Dann teilt man plötzlich, verschenkt Sachen, hilft sich und so weiter! Lauter überflüssige Sachen, die nur Nachteile bringen!“
„Was haben Sie für ein kaltes Herz, Herr Schneemann!“, schimpfte Fräulein Engel.
„Ich muss ihm recht geben“, kam es von Herrn Stiefel. „Wer liebt, wird ärmer und hat weniger Zeit! Wer nur an sich denkt, kann alles behalten und kann tun, was er will!“
„Und wie armselig sähe die Welt aus, wenn jeder nur an sich dächte?“, fragte Fräulein Engel.
Eisiges Schweigen erfüllte den Adventskalender.
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5. Dezember
Herr Schneemann war von der Frage von Fräulein Engel wenig beeindruckt. „Sie sehen doch, wie unsere Welt aussieht“, sagte er. „Jeder lebt sein Leben, jeder sitzt in seinem Bett, jeder lässt den anderen in Ruhe, solange der andere einen selbst auch in Ruhe lässt. So ist die Welt. Ende, aus, Nikolaus.“
Herr Nikolaus horchte auf: „Wie bitte? Was hab ich denn damit zu tun?“
„Nichts. Das war nur ein Sprichwort.“
„Und wenn Sie mich schon ansprechen, Herr Schneemann: Ich weiß, dass es draußen in der Welt – also in der anderen Welt – tatsächlich etwas gibt, das sich Liebe und Barmherzigkeit nennt.“
„Pah! Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie etwa schon in anderen Welten gewesen?“
„Nein. Aber der wirkliche Nikolaus. Der war voll von Liebe und Barmherzigkeit! Er hat arme Kinder mit Äpfeln und Nüssen versorgt. Der Nikolaus weiß, was es heißt, Menschen in Not zu helfen!“
„Sie sind ein Dummschwätzer! Unsere Welt endet oben, unten und an den Seiten in Form einer stabilen Pappwand. Dahinter ist nichts außer dem Hausbesitzer und seinem Reich des Schokoladengenießers. Und auch das Gerede von Liebe und Barmherzigkeit ist nur etwas für Leute, die zu viel Zeit haben!“
Herr Nikolaus stemmte seine Hände in die Seite. „Sie unterkühlter Schokoladenkopf! Natürlich gibt es Liebe und Barmherzigkeit! Ich bin der Beweis dafür!“
„Na sehr schön!“, polterte Herr Schneemann. „Dann helfen Sie doch den armen Abgestürzten da unten im Keller!“
„Nein, das geht leider nicht. Denn ich kann weder fliegen, noch fahren. Und ich bin am Sechsten dran. Das kann ich nicht riskieren!“
„Wie bitte?“, donnerte da Frau Glocke los. „Sie reden von Liebe und Barmherzigkeit und sind nicht bereit, den armen Schokotäfelchen zu helfen, wieder in ihre Zimmer zu kommen?“ Sie schaukelte vor und zurück, holte ordentlich Schwung und schleuderte sich mit einem gekonnten Sprung einen Stock höher in das leere Bett von Herrn Mond. Hier hängte sie sich neu ein, schwang sich noch eine Etage höher und landete bei Herrn Nikolaus.
„So, und jetzt beweisen Sie gefälligst Ihre Barmherzigkeit!“ Frau Glocke trat Herrn Nikolaus mit ihrem Klöppel in den Po. Herr Nikolaus stürzte mit