»Du und dein Hund!«, pflegte er zu sagen, wenn er gut aufgelegt war. Wenn er schlechter Laune war, setzte er noch hinzu: »Ja, wenn wir Kinder hätten! Für sie wäre Billie ein idealer Spielgefährte. Aber dass du so kindisch bist und mit dem Hund stundenlang spielst, verstehe ich nicht.«
Irene hatte zu diesem Vorwurf geschwiegen, obwohl sie mancherlei hätte entgegnen können. Etwa, dass Otmar sie vernachlässigte, während Billie für jede Minute, die sie ihm widmete, dankbar war. Aber Irene liebte Otmar und wollte keinen Streit heraufbeschwören, was ihr indessen immer schwerer fiel, denn Otmars Gereiztheit ihr gegenüber stieg von Tag zu Tag. Allmählich hatte sie das Gefühl, dass ihm überhaupt nichts mehr an ihr lag, dass sie ihm im Gegenteil nur lästig war.
Und heute war die aufgestaute Spannung zum Ausbruch gekommen. Irene saß da, grübelte über die fürchterliche Szene und konnte keine Erklärung dafür finden. Billie hatte Otmar doch nichts getan. Als er gehört hatte, dass sein Herrchen die Eingangstür aufschloss, war er schwanzwedelnd durch die Diele gelaufen, um ihn zu begrüßen, während Irene gesagt hatte: »Schau, Otmar, wie sich unser Billie freut, dass du heute schon so zeitig heimgekommen bist.«
Otmar hatte kein Wort erwidert, sondern den nichtsahnenden Hund mit dem Fuß weggeschleudert und ihn dann noch die Treppe, die zu der Haustür führte, hinuntergestoßen.
Immer wieder ging Irene in Gedanken die Szene durch. Hatte sie einen Fehler gemacht? Hatte sie Otmar zu wenig freundlich begrüßt? Was hatte er nur gegen sie? Unklar fühlte sie, dass sein Zorn eigentlich nicht dem Hund, sondern ihr gegolten hatte. Billie war nur das unschuldige Opfer, sozusagen der Prügelknabe, gewesen. Trotzdem kam auch sie sich ganz zerschlagen vor. Unfähig, einen Entschluss zu fassen, wie sie sich Otmar gegenüber in Zukunft verhalten sollte, ging sie schließlich zu Bett.
Otmar kam erst spät in der Nacht nach Hause, und sie stellte sich schlafend. Am nächsten Tag wich sie ihm aus, soweit es möglich war. Er schien das nicht zu bemerken und erwähnte den Vorfall vom Vortag mit keinem Wort.
*
Billie erwies sich als widerstandsfähig und robust, denn seine Genesung machte rasche Fortschritte. Das war allerdings auch auf die sachkundige und liebevolle Pflege zurückzuführen, die ihm im Tierheim Waldi u. Co. zuteil wurde.
Irene besuchte ihren vierbeinigen Liebling beinahe täglich, und im Anschluss an diese Besuche unternahm sie ausgedehnte Wanderungen durch den Wald. Leider hatte sie nur wenig Spaß daran. Sie nahm die herrliche Umgebung, in der sie sich befand, kaum wahr, hatte keinen Blick für die goldenen Sonnenstrahlen, die sich im Geäst der Bäume verfingen, und auch die Blumen neben den Wegen ließen sie kalt. Ihre Gedanken kreisten einzig und allein um ihre Ehe. Musste sie diese als gescheitert betrachten?
Seit dem Tag, an dem Otmar Billie misshandelt hatte, lebten sie und Otmar nebeneinander her. Otmar war zu ihr sogar wieder etwas freundlicher, aber sie traute dem Frieden nicht. Er schien Billie gänzlich aus seinem Gedächtnis gestrichen zu haben. Es war, als ob der Hund nie existiert hätte.
Irene wusste, dass sie eine Aussprache mit Otmar hätte herbeiführen sollen, doch sie schreckte davor zurück. Wer weiß, welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden? überlegte sie.
Irene wollte sich auch keinem Menschen anvertrauen. Ihre Freundin Erika hatte für Otmar nie viel übriggehabt. Sie würde ihr deshalb sofort zur Scheidung raten. Ihre Eltern wiederum würden ihr den gegenteiligen Rat erteilen. Mutter würde sie zwar trösten, ihr aber gleichzeitig zu verstehen geben, dass man eine Ehe nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfe. Und natürlich würde Irene niemandem die ganze Wahrheit über Otmars Benehmen enthüllen können.
Manchmal begegnete sie auf ihren Spaziergängen in Bachenau und Wildmoos einer Schar fröhlicher Kinder. Sie ging dann immer rasch an ihnen vorbei, ohne deren freundliche Grüße zu erwidern. Der Anblick fremder Kinder verbitterte sie, obwohl diese an ihrem Unglück keine Schuld trugen.
Wahrscheinlich hätte sich Irene immer mehr in ihre Verbitterung hineingesteigert, doch eines Tages wurde sie ganz unvermittelt aus diesem Zustand der Selbstbemitleidung herausgerissen.
*
Jede Hausfrau hätte beim Anblick der wohlgeordneten Reihe von sechsunddreißig Einsiedegläsern, von denen jedes ein Kilo Heidelbeermarmelade zum Inhalt hatte, aufgejubelt. Nicht so Magda, die Köchin von Sophienlust. Obwohl die Marmelade in Ordnung war und sich nirgends Anzeichen von Schimmelpilzen sehen ließen, betrachtete sie die Früchte ihres Fleißes mit leichtem Stirnrunzeln. Schließlich sagte sie zu Frau Rennert, der Heimleiterin: »Ich zähle sie immer wieder, aber es werden nicht mehr. Es sind bloß sechsunddreißig.«
»Wie viel hatten sie im vorigen Jahr?«
»Achtundvierzig. Und vor zwei Jahren waren es sogar zweiundfünfzig. Trotzdem waren sie sehr bald wieder leer.«
»Ich fürchte, die Kinder haben in der Umgebung schon alles abgesucht. In ganz Wildmoos dürfte nicht mehr eine einzige Beere zu finden sein.«
Magda gab sich nicht so leicht geschlagen. »Waren die Kinder auch schon in dem Wald bei Bachenau?«
»Ich werde sie fragen. Wenn nicht, könnten sie heute Nachmittag hingehen. Falls es nicht Regen gibt.« Frau Rennert warf einen besorgten Blick zum Himmel empor, der wieder einmal dicht bewölkt war.
Die Kinder zeigten sich über die Aussicht, am Nachmittag Beeren sammeln zu müssen, nicht übermäßig begeistert.
»Wir haben ohnedies schon körbevoll davon gepflückt«, meinte Irmela.
Pünktchen pflichtete ihr bei. »Mir tut der Rücken noch immer weh vom vielen Bücken.«
Fabian verstieg sich sogar zu der Bemerkung: »Hoffentlich regnet es, dann kann ich wenigstens in Ruhe mein Buch fertiglesen.«
Fabians Wunsch ging jedoch nicht in Erfüllung. Die Wolken waren zwar noch immer da, aber es fiel kein einziger Tropfen Regen, und so machten die Kinder sich unter der Führung Schwester Regines, mit Körben bewaffnet, auf den Weg.
»Wenn ihr essbare Pilze findet, könnt ihr sie auch mitbringen«, hatte Magda ihnen noch ans Herz gelegt, bevor sie losgezogen waren.
Bald erwies sich, dass die Meinungen der Kinder über die Essbarkeit von Pilzen geteilt waren. Die kleineren Kinder hatten nämlich ganz andere Ansichten als die größeren, ließen sich jedoch gern belehren.
Gleich zu Beginn des Ausflugs fand Anselm ein Prachtexemplar von einem Pilz, mit einem großen mattbraunen Hut und einem rötlichgrünen Stengel. Zum Glück zeigte er seinen Fund Schwester Regine. »Schau, wie schön der ist. Er wird gewiss gut schmecken«, meinte er dabei.
»Und wie groß er ist!«, lobte Heidi.
»Nein, den kann man nicht essen.« Schwester Regine brach den Pilz entzwei, sodass sich die weißen Bruchstellen bläulich verfärbten.
»Das ist ein Satanspilz«, mischte sich Vicky ein. »Wir haben in der Schule gelernt, dass er sehr giftig ist.«
»Ja, Vicky hat recht«, bestätigte Schwester Regine. »Wir würden alle krank werden, wenn wir davon essen würden.«
»Wir alle? Von dem einen Pilz?« Heidi konnte es nicht glauben. »Wie krank würden wir denn werden?«
»Wir würden Bauchweh bekommen und wahrscheinlich brechen müssen«, entgegnete Schwester Regine. »Ich halte es für klüger, wenn wir es nicht ausprobieren.«
»Gib mir die Stücke«, bat Pünktchen. »Ich will sehen, ob ich den Stamm von der hohen Fichte dort drüben treffe.«
»Nein, lass mich, du wirfst ja doch daneben«, rief Nick. Aber es war schon zu spät. Pünktchen hatte weit ausgeholt und beide Teile des giftigen Satanspilzes in Richtung Fichte geschleudert, wo sie an dem Stamm zerschellten.
»Siehst du, ich habe getroffen«, triumphierte sie.
»Schade«, sagte Heidi und betrachtete bedauernd Pünktchens Zerstörungswerk.
»Wir werden