»Wie stehen die Wetten?«
»Das ist ja das Merkwürdige. Gestern hätten Sie fünfzehn zu eins bekommen, aber die Quote ist niedriger und niedriger geworden, und mittlerweile gibt es kaum noch drei zu eins.«
»Hm!« sagte Holmes. »Jemand weiß etwas, das ist klar!«
Als die Kutsche bei der Tribüne anhielt, warf ich einen Blick auf die Startertafel. Dort stand:
WESSEX-POKAL. Einsatz 50 Sovs. pro Starter8, halb Reugeld9. Alle Einsätze zuzüglich 1000 Sovs. dem Sieger. Für Vier- und Fünfjährige. £ 300 dem Zweiten, £ 200 dem Dritten. Neue Bahn (1 Meile und 5 Furlongs).
1. Mr. Heath Newtons The Negro (rote Kappe, zimtfarbene Jacke).
2. Colonel Wardlaws Pugilist (rosa Kappe, blauschwarz gestreifte Jacke).
3. Lord Backwaters Desborough (gelbe Kappe, schwarze Jacke mit gelben Ärmeln).
4. Colonel Ross' Silberstern (schwarze Kappe, rote Jacke).
5. Duke of Balmorals Iris (gelbe Kappe, gelbschwarz gestreifte Jacke).
6. Lord Singlefords Rasper (purpurne Kappe, rote Jacke mit schwarzen Ärmeln).
»Wir haben unser zweites Pferd zurückgezogen und uns ganz auf Ihr Wort verlassen«, sagte der Colonel. »Nanu, was ist denn das? Silberstern Favorit?«
»Fünf zu vier gegen Silberstern10!« tönte es vom Buchmacherplatz. »Fünf zu vier gegen Silberstern! Fünfzehn zu fünf gegen Desborough! Fünf zu vier auf das Feld!«
»Da, die Nummern auf der Startertafel«, rief ich. »Sie sind alle sechs da.«
»Alle sechs da! Dann läuft mein Pferd«, rief der Colonel in großer Aufregung. »Aber ich sehe ihn nicht. Meine Farben sind noch nicht vorbeigekommen.«
»Es sind erst fünf vorbeigekommen. Das muß er sein.«
Als ich das sagte, fegte ein mächtiger Brauner aus dem Führring und kanterte an uns vorbei, auf dem Rücken das wohlbekannte Schwarz und Rot des Colonels.
»Das ist nicht mein Pferd«, schrie der Besitzer. »Dieses Tier hat kein einziges weißes Haar am Körper. Was haben Sie da getan, Mr. Holmes?«
»Gemach, gemach, wir wollen sehen, wie er sich anstellt«, sagte mein Freund ungerührt. Er schaute ein paar Minuten durch meinen Feldstecher. »Kapital! Ein ausgezeichneter Start!« rief er plötzlich aus. »Da kommen sie durch den Bogen!«
Von unserer Kutsche aus hatten wir eine prachtvolle Aussicht, als das Feld in die Gerade bog. Die sechs Pferde lagen so dicht beieinander, daß man sie mit einem Teppich hätte zudecken können, aber nach halbem Einlauf schob sich das Gelb-Schwarz des Capleton-Stalls nach vorn. Bevor sie jedoch auf unserer Höhe waren, wurde Desboroughs Vorstoß abgefangen, und das Pferd des Colonels löste sich plötzlich und passierte den Pfosten gute sechs Längen vor seinem Rivalen, während Duke of Balmorals Iris gerade noch den dritten Platz belegte.
»Jedenfalls ist es mein Rennen«, keuchte der Colonel und strich sich mit der Hand über die Augen. »Ich gebe zu, daß ich daraus einfach nicht schlau werde. Meinen Sie nicht, Sie haben Ihr Geheimnis lange genug für sich behalten, Mr. Holmes?«
»Gewiß, Colonel. Sie sollen alles erfahren. Lassen Sie uns zusammen hinübergehen und einen Blick auf das Pferd werfen. Da ist er«, fuhr er fort, als wir den Waagring betraten, zu dem nur Besitzer und ihre Freunde Zutritt haben. »Sie müssen ihm lediglich Stirn und Vorderfessel mit Spiritus abwaschen, und Sie werden feststellen, daß er immer noch der gute alte Silberstern ist.«
»Sie rauben mir den Atem!«
»Ich fand ihn in den Händen eines Fälschers und nahm mir die Freiheit, ihn so starten zu lassen, wie er hierhergeschickt wurde.«
»Mein lieber Sir, Sie haben Wunder gewirkt. Das Pferd sieht sehr fit und gesund aus. Es ist in seinem ganzen Leben noch nicht besser gelaufen. Ich muß Ihnen tausendmal Abbitte tun, daß ich Ihre Fähigkeiten in Zweifel gezogen habe. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, indem Sie das Pferd wiedergefunden haben. Sie würden mir einen noch größeren erweisen, wenn Sie den Mörder von John Straker zu fassen bekämen.«
»Das habe ich bereits«, sagte Holmes gelassen.
Der Colonel und ich starrten ihn verblüfft an. »Sie haben ihn! Wo ist er denn?«
»Er ist hier.«
»Hier? Wo?«
»Eben jetzt in meiner Gesellschaft.«
Der Colonel errötete vor Ärger. »Ich anerkenne durchaus, daß ich Ihnen verpflichtet bin, Mr. Holmes«, sagte er, »aber was Sie eben gesagt haben, kann ich nur als sehr schlechten Scherz oder als Beleidigung auffassen.«
Sherlock Holmes lachte. »Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht habe, Colonel«, sagte er; »der wirkliche Mörder steht unmittelbar hinter Ihnen!«
Er ging an ihm vorbei und legte die Hand auf den schimmernden Hals des Hengstes.
»Das Pferd?« riefen der Colonel und ich gleichzeitig.
»Jawohl, das Pferd. Und es verringert vielleicht seine Schuld, wenn ich sage, daß es in Notwehr gehandelt hat und daß John Straker ein Mann war, der Ihr Vertrauen nicht verdiente. Aber da ertönt die Glocke; und da ich beim nächsten Rennen gewiß eine Kleinigkeit gewinne, möchte ich eine ausführlichere Erklärung auf einen passenderen Zeitpunkt verschieben.«
An diesem Abend hatten wir die Ecke eines Pullman-Wagens für uns, während wir nach London zurückbrausten, und ich bilde mir ein, daß die Reise sowohl für Colonel Ross als auch für mich recht kurzweilig war, während wir der Erzählung unseres Begleiters von den Ereignissen lauschten, die sich in jener Montagnacht bei den Trainingsställen von Capleton zugetragen hatten, und von den Mitteln, mit denen er sie enträtselt hatte.
»Ich gebe zu«, sagte er, »daß alle Theorien, die ich aufgrund der Zeitungsberichte aufgestellt hatte, gänzlich falsch waren. Und doch gab es darin Hinweise, wenn sie auch von anderen Einzelheiten überlagert wurden, die ihre wahre Bedeutung verschleierten. Ich fuhr in der Überzeugung nach Devonshire, daß Fitzroy Simpson der wahre Übeltäter sei, obgleich ich natürlich erkannte, daß das Beweismaterial gegen ihn keineswegs vollständig war.
In der Kutsche, gerade als wir beim Haus des Trainers anlangten, fiel mir mit einemmal die immense Bedeutung des Hammelcurry auf. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich zerstreut war und sitzen blieb, nachdem Sie alle schon ausgestiegen waren. Ich wunderte mich insgeheim, wie um alles in der Welt ich einen so offen zutageliegenden Hinweis hatte übersehen können.«
»Ich muß zugeben«, sagte der Colonel, »daß ich auch jetzt noch nicht erkenne, inwiefern uns das weiterhilft.«
»Es war das erste Glied in der Kette meiner Überlegungen. Opiumpulver ist keineswegs geschmacklos. Sein Geschmack ist nicht unangenehm, aber er ist wahrnehmbar. Mischte man es unter irgendein gewöhnliches Gericht, so würde der Essende es zweifellos herausschmecken und wahrscheinlich nicht mehr weiteressen. Ein Curry war genau das Mittel, mit dem sich dieser Geschmack überdecken ließ. Aber es gibt keine vorstellbare Möglichkeit, wie dieser Fitzroy Simpson, ein Fremder, hätte bewirken können, daß an diesem Abend in der Familie des Trainers Curry serviert wurde, und daß er wie von ungefähr gerade an dem Abend mit Opiumpulver zur Stelle war, als ein Gericht auf den Tisch kam, das den Geschmack unkenntlich machen würde, wäre ein zu ungeheuerlicher Zufall, als daß man ihn annehmen dürfte. Das ist undenkbar. Somit scheidet Simpson als Verdächtiger aus, und unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Straker und seine Frau, die beiden einzigen Menschen, die sich an diesem Abend Hammelcurry als Nachtessen hatten aussuchen können. Das Opium wurde hineingemischt, nachdem die Mahlzeit für den Stalljungen beiseitegestellt worden war, denn die anderen aßen ohne üble Nachwirkungen dasselbe zu Abend. Wer von ihnen hatte also Zugang zu dem Gericht, ohne von dem Mädchen bemerkt zu werden?
Bevor