»Dort sind die Lichter meines Hauses«, murmelte er und deutete auf einen Schimmer zwischen den Bäumen, »und da ist das Cottage, in das ich rein will.«
Wir bogen um eine Ecke des Weges, während er sprach, und da stand das Gebäude gleich vor uns. Ein gelber Streifen, der über den dunklen Vordergrund fiel, zeigte, daß die Tür nicht ganz geschlossen war, und ein Fenster im Obergeschoß war hell erleuchtet. Als wir hinschauten, sahen wir einen dunklen Fleck über die Jalousie huschen.
»Da ist diese Kreatur«, rief Grant Munro; »Sie sehen selbst, daß jemand da ist. Folgen Sie mir, gleich werden wir alles wissen.«
Wir traten auf die Tür zu, doch plötzlich tauchte aus dem Schatten eine Frau auf und stand in der goldenen Bahn des Lampenlichts. Ich konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht erkennen, aber ihre Arme waren in einer flehentlichen Gebärde ausgestreckt.
»Um Gottes willen, tu's nicht, Jack!« rief sie. »Ich hatte eine Vorahnung, daß du heute abend kommen würdest. Besinn dich eines Besseren, Lieber! Vertrau mir noch einmal, und du wirst nie Grund haben, es zu bedauern.«
»Ich habe dir zu lange vertraut, Effie!« rief er streng. »Laß mich durch! Ich muß an dir vorbei. Meine Freunde und ich werden diese Angelegenheit ein für allemal klären!« Er schob sie zur Seite, und wir folgten ihm dichtauf. Als er die Tür aufriß, lief eine ältere Frau vor ihm auf den Flur und versuchte, ihm den Durchgang zu versperren. Er stieß sie zurück, und gleich darauf standen wir alle auf der Treppe. Grant Munro stürzte in das beleuchtete Zimmer im ersten Stock, und wir betraten es gleich nach ihm.
Es war ein gemütlicher, schön eingerichteter Wohnraum mit zwei Kerzen, die auf dem Tisch, und zweien, die auf dem Kaminsims brannten. In der Ecke saß, über ein Pult gebeugt, anscheinend ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht war abgewandt, als wir eintraten, aber wir konnten sehen, daß sie ein rotes Kleid trug und lange, weiße Handschuhe anhatte. Als sie zu uns herumwirbelte, stieß ich einen überraschten und entsetzten Schrei aus. Das Gesicht, das sie uns zuwandte, war von der seltsamsten, leichenfahlen Tönung, und die Züge waren absolut bar jeden Ausdrucks. Einen Augenblick später wurde das Geheimnis gelüftet. Auflachend griff Holmes dem Kind hinters Ohr, eine Maske schälte sich von ihrem Gesicht, und da stand eine kleine, kohlschwarze Negerin, und alle ihre weißen Zähne blitzten vor Belustigung ob unserer verdutzten Gesichter. Ich mußte hell auflachen, angesteckt von ihrer Fröhlichkeit, aber Grant Munro stand und starrte, die Hand um den Hals geklammert.
»Mein Gott!« rief er, »was hat das nur zu bedeuten?«
»Ich werde dir sagen, was es bedeutet«, rief die Dame, die mit stolzem, entschlossenem Gesicht ins Zimmer schritt. »Du hast mich wider besseres Wissen gezwungen, es dir zu sagen, und jetzt müssen wir beide das Beste daraus machen. Mein Mann starb in Atlanta. Mein Kind überlebte.«
»Dein Kind!«
Sie zog ein großes, silbernes Medaillon aus dem Busen. »Du hast das nie geöffnet gesehen.«
»Ich dachte, es ließe sich nicht öffnen.«
Sie berührte eine Feder, und die Vorderseite klappte auf. Darinnen befand sich das Porträt eines auffallend schönen und klugen Mannes, dessen Züge jedoch unverkennbar seine afrikanische Herkunft erkennen ließen.
»Das ist John Hebron aus Atlanta«, sagte die Dame, »und ein edlerer Mann wandelte nie auf Gottes Erdboden. Ich habe mich von meiner Rasse losgesagt, um ihn zu ehelichen; doch solange er lebte, habe ich es niemals auch nur einen Moment lang bedauert. Es war unser Unglück, daß unser einziges Kind eher seiner als meiner Familie nachschlug. Das kommt häufig vor bei solchen Verbindungen, und die kleine Lucy ist sogar weitaus dunkler, als es ihr Vater je war. Doch ob dunkel oder hell, sie ist mein liebes kleines Mädchen und der Schatz ihrer Mutter.« Das kleine Geschöpf lief bei diesen Worten herbei und schmiegte sich ans Kleid der Dame.
»Als ich sie in Amerika zurückließ«, fuhr sie fort, »tat ich das nur, weil sie von zarter Gesundheit war und der Wechsel ihr hätte schaden können. Sie wurde der Obhut einer treuen Schottin anvertraut, die einst unsere Bedienstete gewesen war. Keinen Augenblick lang dachte ich auch nur im Traum daran, sie als mein Kind zu verleugnen. Aber als der Zufall mir dich über den Weg führte und ich dich lieben lernte, hatte ich Angst, dir von meinem Kind zu erzählen. Gott vergebe mir, ich hatte Angst, dich zu verlieren; und ich brachte nicht den Mut auf, es dir zu erzählen. Ich mußte mich für dich entscheiden und wandte mich in meiner Schwäche von meinem kleinen Mädchen ab. Drei Jahre lang habe ich es vor dir geheimgehalten, doch ich hörte von dem Kindermädchen und wußte, daß bei ihr alles zum besten stand. Schließlich jedoch überkam mich ein überwältigendes Verlangen, das Kind noch einmal zu sehen. Ich kämpfte dagegen an, doch vergeblich. Obgleich ich mir der Gefahr bewußt war, beschloß ich, das Kind herüberzuholen, und sei es nur für ein paar Wochen. Ich schickte dem Kindermädchen hundert Pfund und gab ihr Anweisungen für dieses Cottage, so daß sie als Nachbarin kommen konnte, ohne daß es den Anschein hatte, als stünde ich in irgendeiner Weise mit ihr in Verbindung. In meiner Vorsicht hieß ich sie sogar das Kind tagsüber im Hause behalten und ihr Gesichtchen und ihre Hände bedecken, so daß selbst die, die sie möglicherweise am Fenster zu sehen bekämen, nicht darüber tratschten, in der Nachbarschaft wohne ein schwarzes Kind. Es wäre vielleicht klüger gewesen, nicht gar so vorsichtig zu sein, aber ich war halb verrückt vor Angst, du könntest die Wahrheit erfahren.
Du warst es, der mir als erster davon erzählte, daß das Cottage belegt sei. Ich hätte bis zum Morgen warten sollen, aber ich konnte vor Aufregung nicht schlafen, und so schlüpfte ich schließlich hinaus, wußte ich doch, wie schwer es ist, dich zu wecken. Aber du sahst mich gehen, und damit nahmen meine Schwierigkeiten ihren Anfang. Am nächsten Tag war mein Geheimnis dir ausgeliefert, doch du hast großmütig deinen Vorteil nicht ausgenutzt. Drei Tage später allerdings entkamen das Kindermädchen und das Kind nur knapp durch die Hintertür, als du zur vorderen hereinstürztest. Und heute abend nun weißt du endlich alles, und ich frage dich, was aus uns werden soll, aus meinem Kind und mir?« Sie rang die Hände und wartete auf eine Antwort.
Es vergingen zwei lange Minuten, ehe Grant Munro das Schweigen brach, und als seine Antwort kam, war es eine, an die ich mit Freude zurückdenke. Er hob das kleine Kind auf, küßte es und streckte dann, es immer noch auf dem Arm haltend, seiner Frau die andere Hand hin und wandte sich zur Tür.
»Wir können bequemer zu Hause darüber reden«, sagte er. »Ich bin kein sehr guter Mann, Effie, aber ich denke, ich bin ein besserer, als du mir zugutegehalten hast.«
Holmes und ich folgten ihnen hinunter vors Haus, und mein Freund zupfte mich am Ärmel, als wir herauskamen. »Ich glaube«, sagte er, »in London werden wir eher gebraucht als in Norbury.«
Kein weiteres Wort verlor er über den Fall bis spät in der Nacht, als er sich mit brennender Kerze nach seinem Schlafzimmer wandte.
»Watson«, sagte er, »sollten Sie je den Eindruck haben, ich überschätzte meine Fähigkeiten oder ich wende weniger Mühe an einen Fall, als er verdient, dann flüstern Sie mir freundlicherweise ›Norbury‹ ins Ohr, und ich werde Ihnen unendlich verbunden sein.«
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