Ein Schuss kommt selten allein. Johanna Hofer von Lobenstein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Hofer von Lobenstein
Издательство: Bookwire
Серия: Jons übernatürliche Fälle
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948457037
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      Ich legte fragend den Kopf schief. »Was gibt es denn?«

      »Es ist so. Du kannst ja in mir lesen wie in einem Lexikon. Ich dagegen habe es mit dir nicht ganz so leicht. Deshalb möchte ich so etwas wie ein Zeichen vereinbaren, das du machen kannst, wenn wir es mit einem gefährlichen Kandidaten zu tun haben. Damit ich weiß, dass ich mich auf Ärger einstellen sollte, und Zeit habe, einen Plan zu machen, anstatt spontan reagieren zu müssen.« Er stellte seinen Kaffee ab, setzte sich auf seinen Stuhl und drehte sich zu mir. »Beim Militär hatten wir Handzeichen, mit denen wir wortlos kommunizieren konnten.«

      Jetzt verstand ich, was er meinte. Er war der erste meiner Partner, der mitdachte, Probleme vorhersah und Lösungsvorschläge machte. Ich war erst mal verblüfft, obwohl es eigentlich kein Wunder war. Hier sprach sein Beschützerinstinkt. »Diese Handzeichen kann ich aber nicht.«

      »Das habe ich mir schon gedacht«, beschwichtigte er. »Im Polizeidienst lernt man heutzutage die Grundlagen der Gebärdensprache. Kannst du die vielleicht?«

      Keine schlechte Idee. »Die habe ich tatsächlich gelernt. Aber ist das dann nicht ziemlich offensichtlich?«

      »Ich würde sie leicht abwandeln. Es muss so aussehen, als würdest du zappeln oder dich kratzen. Wir müssen heute früh nicht sofort ganz tief einsteigen, aber wir sollten uns schon mal auf zwei wesentliche Signale einigen. Du kennst die Gebärde für P, oder?«

      Ich machte das Zeichen für P: ausgestreckter Zeigefinger, die anderen Finger nach unten zusammengehalten.

      »Genau. Das machst du und stützt dabei das Kinn auf die Hand, als würdest du nachdenken«, schlug er vor. »Dann weiß ich, dass wir Probleme mit dem Typ bekommen.«

      Das war wunderbar simpel. »P für Probleme. Soll G dann Gefahr bedeuten, oder ist das als Denkerpose zu gekünstelt?«

      »Das brauchen wir, glaube ich, gar nicht.« Donovan rieb die Fingerspitzen aneinander. Heute sah er wieder ziemlich gut aus in seinem Oberhemd und den Jeans. Wer auch immer seine Klamotten kaufte, hatte meine volle Zustimmung. Das Hemd hatte einen hellen Kupferton, der seiner Haut schmeichelte. »Wenn ich weiß, dass wir Probleme bekommen, gehe ich auch davon aus, dass Gefahr im Verzug ist. Aber nehmen wir mal an, irgendetwas passiert und ich bin am anderen Ende des Raums, oder wir haben ein Hindernis zwischen uns. Ich möchte, dass du es mir signalisieren kannst, wenn du Hilfe brauchst. Du machst das Zeichen für H vor deiner Brust und klopfst zweimal, sodass es einfach wie eine nervöse Geste aussieht.«

      Ich machte also ein schlampiges H-Zeichen vor der Brust und tippte mir zweimal dagegen. »So?«

      »Genau. Das sehe ich dann schon.« Donovan wirkte einen Hauch entspannter. »Das sollte erst mal reichen. Wir können später noch mehr vereinbaren, wenn es notwendig sein sollte.«

      Ich war gerührt, dass er sich das überlegt hatte und sich von sich aus um mich sorgte. Aber wir kannten uns immer noch nicht gut genug, dass ich ihn einfach so aus Leibeskräften hätte drücken können. Schade. Nun ja, das würde schon noch kommen.

      »Einverstanden. Sollen wir mal unseren möglicherweise völlig unschuldigen Klienten besuchen gehen?«

      Chen Li sah nicht gut aus. Kein Wunder – der arme Kerl war zweimal angeschossen worden, einmal in den Arm und einmal in die Lunge. Er lag hochgestützt im Krankenhausbett, trug Verbände und eine Sauerstoffmaske über dem Mund. Asiatische Männer wirkten oft jünger, als sie wirklich waren, aber er sah aus wie ein Teenager und nicht wie der Zwanzigjährige, der er laut Akte war. Wahrscheinlich trugen seine kurz geschorenen Haare zu diesem Eindruck bei. Er blickte auf, als ich an die Tür klopfte. Unter seinen mandelförmigen Augen lagen dunkle Schatten.

      »Jonathan Bane von der Psy Consulting Agency«, stellte ich mich vor. »Und das ist Donovan Havili, mein Partner.«

      »Sehr erfreut«, erwiderte er mit leichtem chinesischen Akzent. Seine Worte waren wegen der Sauerstoffmaske etwas undeutlich. »Kommen Sie bitte herein.«

      Das tat ich, hielt mich aber in sicherem Abstand von der rechten Seite des Raums, an der sich die ganzen Apparate und auch das Bett befanden. Ich versuchte, in Wandnähe zu bleiben, um den elektronischen Geräten nicht zu nahe zu kommen. Donovan, der meine Vorsicht bemerkte, schob sich zwischen mich und das Equipment. Das entspannte mich etwas, und ich nahm in einem der Besucherstühle Platz. Wenn Chen es merkwürdig fand, dass ich im Haus eine Sonnenbrille trug, erwähnte er es nicht, und er starrte mich zum Glück auch nicht komisch an. Die meisten Leute hätten mich danach gefragt.

      »Meine Aussage.« Chen zeigte auf ein Dokument, das er auf seinem Laptop aufgerufen hatte. »An wen soll ich sie schicken?«

      »Am besten an mich«, sagte Donovan lächelnd. »Zeigen Sie mal her, ich tippe Ihnen hier unten meine E-Mail-Adresse rein.«

      »Ah, vielen Dank.«

      Ich sah aus dem Augenwinkel die Länge des Dokuments. Offen gestanden war ich beeindruckt, dass Chen es geschafft hatte, mit nur einer Hand drei volle Seiten zu schreiben. Das ließ auf Frustration oder Langeweile schließen, vielleicht auch auf beides.

      »Ich weiß, Sie haben das alles aufgeschrieben, und ich werde es auch sorgfältig lesen. Können Sie uns trotzdem noch einmal in eigenen Worten erzählen, was passiert ist?«

      »Überhaupt kein Problem«, sagte er entschlossen. Ungeduldig zog er die Sauerstoffmaske herunter und klemmte sie unters Kinn, um besser sprechen zu können. Seine nächsten Worte waren gleich viel deutlicher. »Haben Sie in der Zeitung von der Geschichte mit Alice Thompson gelesen?«

      Die Zeitung war eines der wenigen Medien, mit denen ich mich auch ohne Elektronik auf dem Laufenden halten konnte, also nickte ich sofort. »Ja. Sie soll angeblich Erpresserbriefe erhalten haben, aber es kam nie jemand zu den Treffpunkten, um das Geld abzuholen. Die Polizei geht davon aus, dass ihr jemand einen Streich gespielt hat, richtig?«

      »Genau. Wir dachten alle, dass es ein Streich war. Ms Thompson und ich studieren am gleichen College, wenn auch nicht die gleichen Fächer. Inzwischen wissen alle am College Bescheid. Das mit den Briefen fing vor ein paar Monaten an, im letzten Semester. Alle hielten es für einen Streich. Aber sie bekam immer weiter Briefe und fragte sich, wer dahintersteckte. Letzte Woche sprach sie mich vor der Bibliothek an, sie wollte etwas mit mir besprechen. Ich dachte mir nichts Böses dabei und sagte, na klar, also haben wir uns auf die Treppe vor der Bibliothek gesetzt. Sie fragte, ob ich von den Briefen gehört hätte, und ich sagte Ja, aber dass ich nicht weiß, wer sie geschickt hat. Sie hat noch weitere Fragen gestellt, aber ich wusste nichts darüber. Ich sagte ihr, ich hoffe, dass die Person bald gefasst wird, damit sie keinen Ärger mehr damit hat. Sie hat gelächelt und sich bedankt. Ich dachte, wir sind fertig, also stand ich auf, habe mich verbeugt und wollte gehen. Als ich aufsah, hatte sie eine Pistole in der Hand.«

      Donovan gab einen Laut von sich, eine Mischung aus einem heruntergeschluckten Fluch und einem Ausruf der Überraschung. Auf die Verletzungen deutend fragte er: »Moment mal, Sie haben noch nicht mal gestritten? Sie hat einfach die Waffe gezogen und auf Sie geschossen?«

      »Sie hat mich zweimal getroffen, wie Sie sehen«, bestätigte Chen düster. »Als ich die Pistole erkannte, bekam ich Angst. Ich bin weggerannt. Sie hat fünfmal geschossen. Um mich herum haben alle geschrien, und manche sind uns nachgerannt. Ich bin vom Campus weggelaufen, in eine Autowerkstatt, und habe mich in einem Auto versteckt. Sie wurde vom Campus-Sicherheitsdienst aufgegriffen, sie haben ihr die Waffe abgenommen und einen Krankenwagen für mich gerufen. Ich weiß nicht, was dann passiert ist, aber vor drei Tagen kam die Polizei hierher. Sie haben mich beschuldigt, die Briefe geschrieben und sie bedroht zu haben. Aber das habe ich nicht!« Chen musste husten, zog eine Grimasse und setzte dann die Sauerstoffmaske wieder auf, wie es ihm seine Lunge zweifellos nahelegte.

      Die ganze Geschichte verursachte mir Kopfschmerzen. Ich konnte seiner Aura ansehen, dass er die volle Wahrheit sprach und dass er ein ehrlicher Mensch war. Er hatte nichts falsch gemacht, und schon gar nichts, was es gerechtfertigt hätte, auf ihn zu schießen. »Ich glaube Ihnen.«