Es ist dieser Zusammenhang zwischen (Urteils-)Bildung und Befreiung des Menschen, der heute wichtiger ist als jemals zuvor. »Wahre Freiheit«, betont der Philosoph und Pädagoge John Dewey, »ist geistig; sie beruht auf der trainierten Gedankenkraft, auf der Fähigkeit Dinge ›umzudrehen‹, bewusst hinzusehen, zu beurteilen, ob die Menge und Art von Evidenz ausreichend ist für eine Entscheidung«.16 Ohne gezielte Anstrengungen, Menschen darin zu unterstützen, diese Fähigkeiten auszubilden, produzieren technologisch entwickelte Gesellschaften höchstens pseudo-kluge Sklaven. Das gilt besonders dort, wo selbstlernende Algorithmen (»künstliche Intelligenz«) ungeahnte Hilfsdienste und Lebenserleichterungen versprechen. Es reicht demnach nicht, nur Transparenz über ihre einprogrammierten Rechenschritte zu fordern, zumal mit neuen Methoden maschinellen Lernens »künstliche Intelligenzen« zunehmend zu »dunklen Schachteln« werden, in die wir kaum mehr hineinblicken. Zentral, um die Autonomie des Menschen gegenüber seinen Geschöpfen sicherzustellen, sind vielmehr des Denkens fähige Persönlichkeiten, die kontrollieren und nachprüfen, was ihnen möglich ist, und dort, wo es ihnen nicht mehr möglich ist, stets wachsam bleiben. Wo der Glaube wächst, Maschinen könnten das erreichen, was uns Menschen verwehrt ist, nämlich abschließende Gewissheit, geht Selbstbetrug schnell in Selbstverknechtung über.
So verstanden ist nicht jedes Selbstdenken immer schon aufgeklärt. Daher geht der Imperativ »Denke selbst« ins Leere, es sei denn, er fordert die Haltung selbst-reflexiven Denkens ein. Die krudesten Theorien können als Produkte von Selbstdenken durchgehen (»Ich gegen die Weltverschwörung«), die größten Mythen als kritisches Denken, aber aufgeklärt sind sie damit noch lange nicht. Solange Selbstdenken sich selbst keine Fragen stellt, bleibt es anfällig für die schwerwiegendsten Vorurteile: Urteile über die eigene Urteilskraft. Selbstdenker ist nicht derjenige, der bequem in seinem eigenen Baum der Erkenntnis sitzt, sondern derjenige, der an diesem Baum auch hin und wieder kräftig rüttelt. Selbstdenken, so könnte man es auch ausdrücken, muss philosophisch werden, um sich von seinem Gegenteil, dem Dogmatismus, zu unterscheiden. Das traditionelle Motto aller Dogmatiker*innen (»Es gilt deshalb, weil es gilt – alternativlos«) sollte Selbstdenker*innen nicht nur Ansporn sein, ideologische Halsstarrigkeit in jeder Erscheinungsform herauszufordern. Es sollte sie auch davor warnen, sich diese Denkweise anzueignen, wo es vielleicht für sie selbst bequem ist. Denn nichts gilt, weil es gilt. Alles könnte anders sein.
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