Wie von selbst sind Kraus’ Aphorismen seinem Werk entsprungen und verweisen deshalb auf dieses zurück (vgl. die Literaturangaben im Anschluss). Mögen sie den Leserinnen und Lesern den Zugang erschließen zu einem Satiriker, der gerade deshalb bis heute so aktuell ist, weil er allem misstraute, was sich als »Fortschritt« ausgab.
Bruno Kern
Werke von Karl Kraus
Auch Zwerge werfen lange Schatten. Sprüche und Widersprüche, Wiesbaden 22016.
Weltgericht. Satiren und Polemiken, Wiesbaden 2014.
Die dritte Walpurgisnacht, Wiesbaden 2015.
Sittlichkeit und Kriminalität. Und weitere Satiren zu Justiz und Moral, Wiesbaden 2017.
Nestroy, Heine & Co. Aufsätze zur Literatur, Wiesbaden 2018.
1Die Titelformulierung dieses ersten Auswahlbandes legt allerdings einen Aphorismus zugrunde, der Kraus fälschlicherweise zugeschrieben wird.
I. WEIB, FANTASIE
Wenn die Sinne der Frau schweigen, verlangt sie den Mann im Mond.
Ist eine Frau im Zimmer, ehe einer eintritt, der sie sieht? Gibt es das Weib an sich?
Die Frau braucht in Freud und Leid, außen und innen, in jeder Lage, den Spiegel.
Die männliche Überlegenheit im Liebeshandel ist ein armseliger Vorteil, durch den man nichts gewinnt und nur der weiblichen Natur Gewalt antut. Man sollte sich von jeder Frau in die Geheimnisse des Geschlechtslebens einführen lassen.
Man muss das Temperament einer Schönen so halten, dass sich Laune nie als Falte festlegen kann. Das sind Geheimnisse der seelischen Kosmetik, deren Anwendung die Eifersucht verbietet.
Eine je stärkere Persönlichkeit die Frau ist, umso leichter trägt sie die Bürde ihrer Erlebnisse. Hochmut kommt nach dem Fall.
Die geniale Fähigkeit des Weibes, zu vergessen, ist etwas anderes als das Talent der Dame, sich nicht erinnern zu können.
Die sinnliche Frau stellt die sittlichste Aufgabe, die sittliche Frau dient sinnlichem Verlangen. Die Unbewusstheit zum Bewusstsein zu bringen ist Aeroismus; die Bewusstheit ins Unbewusstsein zu tauchen, Finesse.
Die Begierde des Mannes ist nichts, was der Betrachtung lohnt. Wenn sie aber ohne Richtung läuft und das Ziel erst sucht, so ist sie wahrlich ein Gräuel vor der Natur.
Den Vorzug der Frau, immer erhören zu können, hat ihr die Natur durch den Nachteil des Mannes verrammelt.
Für den Nachteil des Mannes, nicht immer erhören zu können, wurde er mit der Feinfühligkeit entschädigt, die Unvollkommenheit der Natur in jedem Falle als eine persönliche Schuld zu empfinden.
Dass Titania auch einen Esel herzen kann, wollen die Oberone nie verstehen, weil sie dank einer geringen Geschlechtlichkeit nicht imstande wären, eine Eselin zu herzen. Dafür werden sie in der Liebe selbst zu Eseln.
Umschreibung: »Er füllt mit seiner Stimme mein Ohr ganz aus!« sagte sie vom Sänger.
Dasselbe Mädchen konnte einmal von einem, der ihr nachgegangen war, sagen: »Er hatte einen Mund, der küsste von selbst.«
Wie unwesentlich und ungegenwärtig dem Mann das Geschlechtliche ist, zeigt sich darin, dass selbst die Eifersüchtigen ihre Frauen auf Maskenbällen sich frei bewegen lassen. Sie haben vergessen, wie viel sie sich ehedem mit den Frauen anderer dort erlauben konnten, und glauben, dass seit ihrer Verheiratung die allgemeine Lizenz aufgehoben sei. Ihrer Eifersucht opfern sie durch ihre Anwesenheit. Dass diese ein Sporn ist und kein Zügel, sehen sie nicht. Keine eifersüchtige Frau würde ihren Mann auf die Redoute gehen lassen.
Wenn eine Frau Gescheitheiten sagt, so sage sie sie mit verhülltem Haupt. Aber selbst dann ist das Schweigen eines schönen Antlitzes noch anregender.
Die Frauen sind die besten, mit denen man am wenigsten spricht.
Man entscheidet für die Mütter gegen die Hetären, die nichts hervorbringen, höchstens Genies.
Man achte den Acker und man liebe die Landschaft. Dieses ist nahrhafter.
Es kommt schließlich nur darauf an, dass man überhaupt über die Probleme des erotischen Lebens nachdenkt. Widersprüche, die man zwischen seinen eigenen Ergebnissen finden mag, beweisen nur, dass man in jedem Fall recht hat. Und die Widersprüche zwischen den eigenen und den Ergebnissen, zu denen andere Denker gelangt sind, entfernen uns nicht so weit von diesen, wie uns der Abstand von solchen entfernt, die überhaupt nicht über die Probleme des erotischen Lebens nachgedacht haben.
Wenn man einmal durch Erleben zum Denken gelangt ist, so gelangt man auch durch Denken zum Erleben. Man genießt die wollüstigen Früchte seiner Erkenntnis. Selig, wem Frauen, auf die man Gedachtes mühelos anwenden kann, zu solcher Erholung beschieden sind!
Die Schätzung einer Frau kann nie gerecht sein; aber die Über- oder Unterschätzung geschieht immer nach Verdienst.