2 Woher wissen wir etwas?
Wenn man recht darüber nachdenkt, so kann man sich nur über das Innere seines eigenen Bewusstseins ganz sicher sein.
Was auch immer man glaubt – ob’s Sonne, Mond und Sterne, das Haus oder das Viertel betrifft, in dem man wohnt, oder die Weltgeschichte, die Wissenschaft, andere Leute, ja sogar die Existenz des eigenen Körpers –, es gründet sich auf die eigenen Erlebnisse und Gedanken, Gefühle und Sinneseindrücke. Das ist alles, wonach man sich unmittelbar richtet, ob man das Buch in seinen Händen betrachtet oder den Boden unter seinen Füßen spürt oder sich daran erinnert, dass Theodor Heuss der erste Bundespräsident war oder dass Wasser H2O ist. Alles andere ist weiter von uns weg als unsere inneren Erlebnisse und Gedanken und erreicht uns nur durch sie.
Für gewöhnlich zweifeln wir nicht an der Existenz des Bodens unter unseren Füßen oder des Baumes draußen vor dem Fenster oder unserer eigenen Zähne. Ja, die meiste Zeit denken wir noch nicht einmal an die psychischen Zustände, die uns diese Dinge wahrnehmen lassen, sondern scheinen die Welt direkt wahrzunehmen. Woher wissen wir jedoch, ob es ihre Dinge auch wirklich gibt? Wäre es denn anders für uns, wenn sie nur in unserem Bewusstsein existierten – wenn all das, was wir dort draußen für die wirkliche Welt hielten, nichts als eine gigantische Halluzination oder ein Traum wäre, aus dem wir niemals aufwachen werden?
Verhielte es sich allerdings so, dann könnten wir hier überhaupt nicht wie aus einem Traum aufwachen, denn es würde nichts anderes bedeuten, als dass es eine »wirkliche« Welt, in die man aufwachen könnte, gar nicht gäbe. Insofern wäre dies eigentlich weder wie ein gewöhnlicher Traum noch wie eine normale Halluzination. In der Regel denken wir uns Träume so, dass sie sich im Bewusstsein von Menschen ereignen, die tatsächlich in wirklichen Kissen liegen und sich in wirklichen Häusern befinden, auch wenn sie im Traum von einem wildgewordenen Rasenmäher durch die Straßen von Bad Kissingen gejagt werden. Und wir nehmen überdies an, dass gewöhnliche Träume von den Vorgängen abhängig sind, die sich, während er schläft, im Gehirn des Schlafenden abspielen.
Könnten aber nicht unsere Erlebnisse insgesamt einem gigantischen Traum gleichen, außerhalb dessen es eine Außenwelt gar nicht gibt? Wie können wir denn wissen, dass es sich nicht genau so verhält? Wären alle unsere Erlebnisse ein Traum und dort draußen nichts, so wäre das gesamte Material, das man herbeizitieren möchte, um sich zu beweisen, dass es eine Außenwelt gibt, ein Teil dieses Traumes. Wir würden vielleicht auf den Tisch klopfen oder uns kneifen, und wir würden das Klopfen hören und das Kneifen spüren; all das würde jedoch schon wieder etwas sein, das wie alles Übrige in unserem Bewusstsein vor sich geht. Es ist zwecklos. Wollen wir herausfinden, ob die Inhalte unseres Bewusstseins uns überhaupt darüber unterrichten, was sich außerhalb dieses Bewusstseins befindet, so können wir uns zur Beantwortung dieser Frage nicht darauf stützen, wie uns die Dinge – innerlich – erscheinen.
Worauf soll man sich aber dann noch stützen? Jegliches Beweismaterial, ganz gleich wofür, muss durch unser Bewusstsein hindurch – sei’s in Gestalt unserer Wahrnehmungen, sei’s in Form von Berichten in Büchern, von Aussagen anderer oder von Mitteilungen unseres Gedächtnisses –, und es lässt sich ohne weiteres mit allem, dessen wir uns bewusst werden, vereinbaren, dass außer unseren Bewusstseinsinhalten überhaupt nichts existiert.
So ist es sogar möglich, dass wir einen Körper oder ein Gehirn gar nicht haben – schließlich kommt es zu unserem Glauben hieran gleichfalls nur durch das Zeugnis unserer Sinne. Wir haben unser Gehirn nie gesehen – wir nehmen ganz einfach an, dass jeder eines hat –, doch selbst wenn wir es gesehen hätten, oder es zu sehen geglaubt hätten, so wäre dies nichts anderes gewesen als eine weitere visuelle Wahrnehmung. Vielleicht sind wir selbst, das Subjekt der Erfahrung, das Einzige, was es gibt, und eine physikalische Welt existiert überhaupt nicht – es gibt keine Sterne, keine Erde, keine menschlichen Körper. Vielleicht gibt es noch nicht einmal den Raum.
Wollte man das Argument anbringen, dass es eine körperliche Außenwelt deshalb geben muss, weil wir die Häuser, Menschen oder Sterne nicht sehen würden, wenn es draußen nicht etwas gäbe, das Licht auf unsere Augen reflektiert und unsere Gesichtswahrnehmungen verursacht, so wäre die Antwort klar: Woher weiß man wiederum dies? Ist dies nicht erneut eine Aussage über die Außenwelt und unsere Beziehung zu ihr, die sich daher auf das Zeugnis unserer Sinne gründen muss? Man kann sich jedoch auf diese besonderen Informationen darüber, auf welche Weise visuelle Wahrnehmungen verursacht werden, nur dann stützen, wenn man sich bereits grundsätzlich darauf verlassen kann, dass uns die Inhalte unseres Bewusstseins über die Außenwelt unterrichten. Und genau das wurde oben in Frage gestellt. Versucht man die Verlässlichkeit seiner Eindrücke im Rückgang auf seine Eindrücke zu beweisen, so argumentiert man im Kreis und gelangt nirgendwohin.
Die radikalste Konsequenz, die ich hieraus ziehen könnte, wäre die Annahme, dass mein Bewusstsein in der Tat das einzige ist, was es gibt. Diese Auffassung nennt man den »Solipsismus«. Eine recht einsame Auffassung, die nicht von allzu vielen Leuten vertreten worden ist. Diese Bemerkung macht bereits klar, dass ich sie auch nicht vertrete. Wäre ich ein Solipsist, so schriebe ich dieses Buch vermutlich nicht, da ich nicht glaubte, dass ein anderer, der es lesen könnte, überhaupt existierte. Doch auf der anderen Seite schriebe ich es vielleicht, um mein Innenleben interessanter zu gestalten, das ich auf diese Weise um Eindrücke bereichern würde, Eindrücke davon, dass das Buch im Druck erschiene, dass andere es läsen und dazu Stellung nähmen, und dergleichen. Mit etwas Glück brächte ich es womöglich zu dem Eindruck, dafür ein angemessenes Honorar zu erhalten …
Vielleicht sind Sie ein Solipsist: in diesem Fall werden Sie das Buch als ein Produkt Ihres eigenen Geistes ansehen, das in Ihrer Erfahrung zu existieren beginnt, während Sie es lesen. Ich kann Ihnen in der Tat mit nichts beweisen, dass es mich wirklich gibt oder dass das Buch im Sinne eines physikalischen Objekts existiert.
Zieht man jedoch die Schlussfolgerung, dass man der einzige Gegenstand ist, der existiert, so folgert man mehr, als man aufgrund der Daten zu folgern befugt ist. Man kann auf der Grundlage der Inhalte seines Bewusstseins nicht wissen, dass es außerhalb seiner keine Welt gibt. Vielleicht ist die richtige Schlussfolgerung die bescheidenere, dass wir über unsere Eindrücke und Erlebnisse hinaus nichts wissen: es mag eine Außenwelt geben oder auch nicht geben, und wenn es eine solche gibt, so mag sie völlig anders sein als sie uns erscheint – oder wiederum auch nicht. Wir können dies in keiner Weise entscheiden. Diese Auffassung nennt man den »Skeptizismus« in Bezug auf die Außenwelt.
Selbst eine stärkere Form des Skeptizismus ist möglich. Ähnliche Argumente scheinen zu zeigen, dass wir nichts über unsere Existenz und unsere Erlebnisse in der Vergangenheit wissen, da wir uns jeweils einzig auf unsere gegenwärtigen Bewusstseinsinhalte stützen können, die gegenwärtigen Gedächtniseindrücke inbegriffen. Wenn wir nicht sicher sein können, dass eine Welt außerhalb unseres Bewusstseins jetzt existiert, wie können wir uns dann sicher sein, dass wir selbst in der Vergangenheit existiert haben? Woher wissen wir, dass wir nicht mit allen unseren gegenwärtigen Erinnerungen ausgestattet vor einigen Minuten zu existieren begonnen haben? Die einzigen Belege dafür, dass wir nicht vor einigen Minuten zu existieren begonnen haben können, stützen sich auf Überzeugungen darüber, wie Personen und ihr Gedächtnis hervorgebracht werden, und diese wiederum auf Überzeugungen über das, was in der Vergangenheit geschah. Wollten wir uns aber auf solche Überzeugungen berufen, um zu beweisen, dass wir in der Vergangenheit existiert haben, so folgerten wir erneut im Kreis: wir würden die Wirklichkeit der Vergangenheit unterstellen, um die Wirklichkeit der Vergangenheit zu beweisen.
Wir scheinen also an nichts anderem hängen zu bleiben, dessen wir uns sicher sein können, als den Inhalten unseres Bewusstseins im gegenwärtigen Augenblick. Und offenbar ist jedes Argument, mit dem wir versuchen können, uns aus dieser Verlegenheit herauszudiskutieren, zum Scheitern verurteilt, da dieses Argument das unterstellen muss, was wir gerade zu beweisen versuchen