Lilo sah den Kutscher fassungslos an, und er erriet ihre nächste Frage, bevor sie sie aussprechen konnte.
»Meine Cousine Nessa arbeitet dort.« Foley zuckte betont gleichgültig mit den Schultern und sah die Straße entlang. »Wir sollten weitergehen, My Lady. Hanbury Street muss ein kleines Stückchen nördlich von hier sein.«
Lilo versuchte, im Weitergehen unauffällig auf ihre Umgebung zu achten. Jedes Haus, das sie passierten, war entweder ein boarding house, ein Pub, oder ein sogenannter dram shop, was nichts anderes als ein primitiv gezimmerter Ausschank war. Es stank nach billigem Gin und Rum. Aus einer der dunklen Seitengassen, die sie passierten, hörte man lautes Hecheln und Stöhnen. Eine der Straßenhuren musste Kundschaft gefunden haben. Lilo fühlte, wie ihre Wangen brannten und sie mied die Blicke der Männer, die sie begleiteten.
Auf einmal bemerkte sie in der Menschenmenge ein bekanntes Gesicht.
»Toby?«, rief sie erstaunt.
Der Junge sah sich um, wer ihn gerufen hatte. Lilo winkte ihn zu sich heran.
»Du bist doch Toby, der Zeitungsjunge? Der morgens immer Mr Vitt eine Zeitung in den Teeladen bringt?«
Jetzt erkannte Toby sie. »Miss Maybrick! Wie geht es Ihnen? Ich habe Sie lange nicht im Laden gesehen.«
»Weil sie jetzt Lady Tarleton ist«, unterbrach Bessie schnippisch.
Toby riss sich die Kappe vom Kopf und deutete eine Verbeugung an.
»Herzlichen Glückwunsch, My Lady. Das hat Mr Vitt mir gar nicht erzählt.«
»Ich dachte, du weißt alles, was in London vor sich geht«, erwiderte Lilo lächelnd.
»Nur das, was in den Zeitungen steht, My Lady.«
»Kennst du dich hier in der Gegend aus, Toby?«
»Aber ja.«
»Dann führe uns bitte in die Hanbury Street. Dort muss eine Armenküche sein.«
»Die kenne ich, My Lady. Folgen Sie mir.«
Der Junge führte sie zielstrebig noch ein Stück weiter nach Norden, und dann nach links in einen schäbigen Durchgang. Lilo sah sich schaudernd um. Alleine wäre sie hier tatsächlich nur ungern durchgegangen.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes, My Lady?« Toby sah sie neugierig an.
»Ich möchte die Armenküchen unterstützen. Und wer weiß, vielleicht kann ich noch etwas anders tun. Eine gute Anstellung finden für Frauen, die … nun, du weißt schon, die jetzt auf der Straße arbeiten müssen.«
»Das wäre ein gutes Werk, My Lady.« Toby hatte das so inbrünstig gesprochen, dass sie aufhorchte.
»An wen denkst du, Toby?«
Der Junge wurde rot. »An meine Patin, My Lady.«
»Sucht sie eine Anstellung?«
»Sie hat sogar schon einmal für reiche Leute gearbeitet. Hat geputzt und Wäsche gewaschen. Aber dann hat man sie beschuldigt, Geld gestohlen zu haben, und sie musste gehen.«
»Nur beschuldigt?«, fragte Foley spöttisch.
»Ja, Sir. Ich glaube wirklich nicht, dass sie das Geld genommen hat. Sie war so glücklich, eine feste Arbeit zu haben. Und hat damals viel weniger getrunken als sonst.«
Toby biss sich auf die Lippen, als habe er zu viel gesagt. Lilo nickte ihm aufmunternd zu.
»Ich weiß, dass viele dieser Frauen trinken«, sagte sie. »Wie heißt deine Patin?«
»Mrs Mary Ann Nichols, My Lady. Aber alle rufen sie nur Polly.«
»Gut. Dann richte bitte Mrs Nichols Folgendes aus: Ich hätte gerne, dass sie morgen Mittag bei mir vorspricht. Gewaschen, ordentlich gekleidet und nüchtern. Wenn sie das schafft, dann höre ich mich gerne nach einer anständigen Anstellung für sie um.«
»Danke, My Lady!«
Der Junge grinste breit und offenbarte dabei eine große Zahnlücke. Seine Augen funkelten. Lilo konnte gut nachvollziehen, warum Jakob den Burschen mochte.
»Wir sind auch schon da, My Lady.«
Toby zeigte auf einen schmalen Holzbau, der sich zwischen die anderen Häuser der Hanbury Street schmiegte. Vor der Tür stand eine lange Schlange Menschen in zerlumpter Kleidung.
»Es gibt hier immer Suppe«, erklärte Toby. »Es ist hauptsächlich Brühe, aber wenigstens etwas Warmes im Bauch.«
»Danke für die Führung.« Lilo gab dem Jungen eine Handvoll Münzen, wahrscheinlich mehr, als er den restlichen Tag verdienen würde. »Kauf dir etwas Anständiges zu essen. Wir kommen jetzt alleine zurecht.«
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