Als Aufgabe der Internetlinguistik betrachten wir die Untersuchung der Sprachverwendung in Abhängigkeit von der spezifischen Online-Umgebung. Welche wechselseitigen Einflüsse können wir feststellen? Wie gestaltet sich die Kommunikation über die verschiedenen Internetdienste? Was ist charakteristisch wofür? Wie müssen wir die bereits existierenden linguistischen Ansätze anpassen oder erweitern, um den neuen Kommunikationsraum theoretisch adäquat beschreiben zu können?
Wir befinden uns damit mitten in der Angewandten Linguistik und können folgerichtig nicht nur genuin sprachwissenschaftlich vorgehen, sondern greifen sinnvollerweise sowohl methodisch als auch theoretisch auf Nachbardisziplinen wie die Kommunikations- und Medienwissenschaft, die Psychologie und die Soziologie zurück. Damit werden die Bausteine, die in der modernen Linguistik verwendet werden, in einer anderen Umgebung neu zusammengesetzt und mit weiteren Bausteinen interdisziplinär ergänzt, um ein modernes und stabiles Gebäude zu errichten.
Die Internetlinguistik beschäftigt sich mit der Sprachverwendung im Internet und damit mit einem spezifischen kommunikativen Kontext, dessen Charakteristika in alle Analysen einfließen. Bei der Internetlinguistik handelt es sich um eine Schnittstellendisziplin, die – wie für die Angewandte Linguistik typisch – neben linguistischen Zugängen, kommunikations- und medienwissenschaftliche Methoden kombiniert und durchaus auch sozio- und psychologische Fragestellungen motiviert.
Es ist unser Anliegen, eine Anleitung dafür vorzulegen, wie die isolierte Beobachtung sprachlicher Phänomene im Internet überwunden werden kann. Die Sprachverwendung im Internet ist nicht nur ein auf allen sprachwissenschaftlichen Beschreibungsebenen hochinteressanter Forschungsgegenstand, sondern auch über den Tellerrand der Linguistik hinaus.
Das haben viele andere vor uns bemerkt. Seit etwa 15 Jahren gibt es eine rege sprachwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Themen wie Sprache und Kommunikation im Netz (Runkehl/Schlobinski/Siever 1998, Siever/Schlobinski/Runkehl 2005, Haase et al. 1997, Baron 2008a,b), Netzsprache (Crystal 22006, 2011, Rosenbaum 1996), Mündlichkeit/Schriftlichkeit (Dürscheid 2003, 52016, Storrer 2001a,b, Thaler 2003), Chat-Kommunikation (Beißwenger 2002, 2007, 2009, 2010a,b, 2013a,b, in press), syntaktischen Innovationen (Albert 2011, 2013), Bedeutungswandel (Dürscheid/Brommer 2013) oder den Charakteristika von Hypertexten (Storrer 2004, Jakobs/Lehnen 2005, Beißwenger/Storrer 2010, Jakobs 2011). Androutsopoulos (2003a,b) hat sich mit soziolinguistischen Aspekten auseinandergesetzt, Thimm (2000) hat eine Sammlung von Texten zur Sozialität im Netz veröffentlicht. Döring (22003) definiert eine Sozialpsychologie des Internets als Forschungsgegenstand. Jakobs/Lehnen (2006, Jakobs 2013) befassen sich mit Fragen der Usability. Bei Dang-Anh/Einspänner/Thimm (2013), Siever (2001, 2006) oder Moraldo (2009) finden wir Untersuchungen zu spezifischen Kommunikationsformen wie Twitter. Es gibt Forschung zu Diskursen im Netz (Frass/Meier/Pentzold 2013, Thurlow/Mroczek 2011), zur Online-Liebe (Döring 2002, 2003, Ze’ev 2004, Marx 2012a,b) und sprachlichen Online-Gewalt (Fawzi 2009, 22015, Gradinger 2010, Katzer/Fetchenhauer/Belschak 2009, Marx 2012a, 2013a,b, Schwarz-Friesel 2013), zur digitalen (Un-)Ordnung (Runkehl 2013), zum Online-Verhalten der verschiedenen Generationen (Feufel/Stahl/Lee 2013, Ziefle/Jakobs 2013), zu Politikerauftritten im Netz (Weidacher 2007), zu kreativen Versuchen, Filter zu umgehen (Eliaz/Rozinger 2013), zu Identitätskonstruktionen (Gallery 2000, Götzke 2002, Döring 2000b, Thimm/Ehmer 2000), zur Theologie der Social Media (Ernst/Costanza 2012) oder zu ins Internet verlegten sozialen Ritualen, wie z. B. die Trauer (Jakobs/Ziefle 2010). Ein ganzes DFG-Forschungsnetzwerk, Empirikom, wurde gegründet, um empirische Methoden in der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Internetforschung zu diskutieren (Beißwenger 2012).
Wir könnten diese Aufzählung noch einige Seiten fortführen, die Publikationen zu allen nur vorstellbaren Facetten des Internets sind schier unüberblickbar. Das Internet erscheint wie eine Inspirationsquelle, die in absehbarer Zeit nicht versiegt. Wer von dieser Quelle trinken möchte, stellt schnell fest, dass das gar nicht so einfach ist, weil sie stark sprudelt und einen (Daten- oder auch Informations-)Strom speist, der Wellen schlägt, auf denen das Surfen durchaus eine Herausforderung darstellt. Wir haben uns mitreißen lassen von dieser Fülle an hochinteressanten Themen und Forschungsergebnissen. Um noch ein wenig im Bild zu bleiben: Es hat uns harte Ruderarbeit gekostet, schließlich am Ufer der Internetlinguistik anlegen zu können und zwar mit mehr Gepäck als zum Zeitpunkt unseres Aufbruchs. Einiges wurde zu Treibgut und das bedauern wir. Die Dinge aber, die wir retten konnten, weil sie oben schwammen oder wir schnell genug zugegriffen haben, haben wir sorgfältig aufbereitet. Dazu mussten wir sie manchmal auch miteinander verbinden, um sie wiederherstellen zu können. Ihren Eigentümer*innen danken wir. Es gab natürlich auch Dinge, die wir ersetzen mussten oder die komplett neu hinzukamen, weil sich während unseres Surfabenteuers die Notwendigkeit dazu ergab. Nun ist dieses Abenteuer vorerst bestanden und Sie halten mit diesem Buch unsere kompakte Reisedokumentation in den Händen. Natürlich müssen wir uns auch fragen (lassen), warum wir die Dokumentation im Zeitalter des Internets überhaupt noch in eine Buchform gebracht haben. Ganz einfach, wir wollten anderen die Strapazen unserer Reise ersparen, sie sollen einen Aktiv-Urlaub antreten können – angeleitet von einem handlichen Reiseführer. Zudem, da geben wir uns konservativ, sind wir Anhänger*innen des guten alten Leseprozesses. Wir glauben, dass er Wunder bewirken kann, die auch positive Effekte auf alle prozeduralen Fähigkeiten unseres Gehirns haben. Im Umkehrschluss beobachteten wir im Selbstversuch und auch bei unseren Studierenden negative Auswirkungen auf die Gedächtnisleistungen oder die Konzentrationsfähigkeit beim staccatohaften Suchen nach Stichworten, wie es für die Onlinerezeption üblich ist, siehe dazu auch den sehr anschaulichen Erklärungsversuch von Nicholas Carr (2010a,b).
Zur HandhabungJedes der folgenden Kapitel ist mit drei Leitfragen überschrieben, die die jeweilige Thematik des Kapitels aufgreifen. Am Ende eines jeden Kapitels finden Sie den „Speicherinhalt“, der einer Zusammenfassung der wesentlichen Punkte entspricht, und zusätzliche Übungsfragen. Aus didaktischen Gründen wird der Text innerhalb der Kapitel mehrfach von Aufgaben oder gerahmten Informationen unterbrochen. Eine Erläuterung der Symbole finden Sie unten stehend. Die einzelnen Kapitel dieses Buches bauen zwar aufeinander auf, bilden aber jedes für sich so geschlossene Einheiten, dass sie in selbst gewählter Reihenfolge gelesen werden können.
Zitat. Längere wörtliche Zitate sind ebenfalls gerahmt.
Weiterführende Literatur. Mit den Leseempfehlungen wollen wir Sie ermuntern,