Weigand starrte angestrengt auf den Computer, während er die restlichen grünen Gummibärchen in den Mund steckte.
„Was ist?“, wollte Hesse wissen.
„Ich glaube, wir haben es mit einem alten Freund zu tun.“
2
Mein Name ist Harald Falkenberg – Doktor Harald Falkenberg. Ich war Psychologe und Inhaber einer gut gehenden psychologischen Praxis in der schönen Cronstettenstraße im Frankfurter Holzhausenviertel. In ebendiesem Haus lebte ich in einer ansehnlichen Dreizimmerwohnung.
Mein Vater brachte kein Verständnis für meine Berufswahl auf. Nur zu gern hätte er seine angesehene Anwaltskanzlei an mich übertragen, bevor er vor über fünfzehn Jahren mit meiner Mutter nach Mallorca umgesiedelt war. Die beiden fristeten dort ihr feudales Leben auf noblen Golfplätzen. Mir jedoch war Geld nie wichtig genug gewesen, als dass ich daraufhin meine Berufswahl getroffen hätte. Stattdessen war mir der Umgang mit Menschen wichtig und ich blickte gern hinter deren Fassade. Ich konnte mich in das Seelenleben anderer einfühlen, zumindest versuchte ich es immer wieder aufs Neue.
Eine Patientin fragte mich einmal, ob ich amerikanische Verwandtschaft hätte. Angeblich sähe ich George Clooney ähnlich. Tatsächlich passierte es schon ein paarmal, dass ich um ein Autogramm gebeten wurde, und zwar am Frankfurter Flughafen, wo man einen Weltstar wohl auch eher vermutete als in der City.
Meine Tätigkeit – oder besser gesagt: die Arbeit des Psychologen – war in meinen Augen signifikant wichtig. Sie nahm meiner Meinung nach sogar einen immer höheren Stellenwert ein, da in dieser schnelllebigen, hoch spezialisierten, noch dazu digitalisierten Welt der Leistungsdruck immens zunahm. Nicht wenige Menschen blieben dabei auf der Strecke und entwickelten daraus resultierend Ängste oder Phobien und schließlich auch Süchte. Hatte es sich früher um Alkohol-, Drogen-, Tablettensucht oder um Essstörungen gehandelt, kamen heutzutage Online-Sucht, Handy-Abhängigkeit oder gar Sportsucht hinzu, um nur einige wenige zu nennen.
Das bedeutete natürlich nicht, dass man auf Sport verzichten sollte – ganz im Gegenteil. Meinen Patienten riet ich neben der Therapie, wenn möglich, zu regelmäßiger Bewegung, denn sie relativierte nicht selten psychische Leiden und sorgte für einen ausgeglichenen Gemütszustand. Das galt natürlich nicht nur für psychisch kranke Menschen; es tat jedem Organismus gut. Auch für mich war Bewegung immens wichtig. So war ich mittlerweile ein stringenter Sportler, der nur selten Auto fuhr. Deshalb parkte mein Smart schon seit Wochen an derselben Stelle unweit meines Hauses. Ich fuhr Rennrad und lief jedes Jahr mindestens einen Marathon. Wie bereits mehrmals zuvor wollte ich auch in diesem Jahr am Mainova Marathon teilnehmen. Und ich hatte mich vorsorglich für den Ironman 2020 angemeldet. Dieser sollte im Juni stattfinden. Bislang hatte ich noch nicht viel zu dem Thema recherchiert, weshalb ich mir sicher war, dass ich über die Anmeldung hinaus wohl kaum tätig werden würde.
Ich tat wirklich alles, um Menschen vor psychischen Erkrankungen zu bewahren oder diese zu heilen. Alles, was wir vollbrachten, egal, worum es sich handelte, sollten wir ernst nehmen, denn kein Mensch wurde geboren, um seine Lebenszeit ziel- und nutzlos totzuschlagen. Jeder Mensch hatte seine Aufgabe zu erfüllen, und das war gewiss nicht nur meine Devise. Täten es alle gewissenhaft, indem sie ihrem Instinkt und ihrem Verstand folgten, ließe sich einiges bewegen in dieser unsicheren, von Kriegen und Zerstörung erschütterten Welt.
Leider gab es auch psychische Leiden, die man nur lindern, jedoch nicht vollständig heilen konnte. Sie entstanden oft durch Traumata, die meist frühkindlicher Natur waren. Menschen, die erschreckende Erlebnisse durchgemacht hatten, wurden häufig zu Borderlinern, um nur ein Beispiel zu nennen, oder sie entwickelten im Laufe ihres Lebens Aggressionen, die sie nicht bewältigen konnten und die nicht zuletzt in kriminellen Handlungen mündeten.
Dies zu verhindern oder zumindest zu erkennen, war Teil meiner Arbeit, die mich oft selbst so sehr beanspruchte, dass Sport für mich zum Katalysator wurde.
3
Es war einer dieser herrlichen Sommerabende. Nach der unerträglichen Hitze des Tages waren die Abende angenehm kühl. Nachdem die letzte Patientin gegangen war, hatte ich eine Rennradstrecke über Sachsenhausen bis nach Neu Isenburg zurückgelegt, war anschließend in meine Wohnung zurückgekehrt, um mich frisch zu machen und mich umzuziehen, und hatte beschlossen, den schönen Abend irgendwo ausklingen zu lassen.
Da saß ich nun im bekannten Café Größenwahn bei einem Glas Wein und gutem Essen. Ich hatte einen der beliebten Plätze draußen auf der Straße ergattert und genoss es, das Treiben um mich herum zu beobachten. Die bewundernden Blicke zweier Damen am Nebentisch registrierte ich zwar, sie interessierten mich aber nicht, hatte ich mir doch mein Leben recht gut ohne Partnerin eingerichtet.
Ich war dem Café Größenwahn schon seit etlichen Jahren treu, man kannte und schätzte mich hier. Das Café war bekannt für Toleranz und ein illustres Publikum. So fühlten sich hier seinerzeit die ersten schwulen und lesbischen Paare anerkannt und wohl. Auch Künstler und Literaten schätzten das liberale Café, in dem man, wenn man es wollte, fast immer auf jemanden traf, mit dem man sich intellektuell und vielseitig austauschen konnte.
Mit meinem Rad brauchte ich keine zehn Minuten von der Cronstettenstraße bis hierher. Das machte das Lokal für mich zur perfekten Location: erst Sport, dann ein Abendessen zur Belohnung.
„Darf ich Ihnen noch einen Wein bringen, Herr Falkenberg?“, fragte mich die Bedienung gerade in dem Moment, als ein Mann etwa in meinem Alter an mir vorüberging, mir neugierig ins Gesicht sah, weiterging, um schließlich stehen zu bleiben und sich erneut nach mir umzudrehen. Wieder jemand, der mich mit dem Schauspieler verwechselte?
Der Mann sah mich verdutzt an, kam ein paar Schritte auf meinen Tisch zu und sprach mich schließlich an. „Kennen wir uns nicht? Ich meine, Sie kommen mir so bekannt vor, und als ich eben Ihren Namen hörte …“
Neugierig blickte ich zu ihm auf. „Ich kann mich nicht erinnern, aber vielleicht helfen Sie mir ja auf die Sprünge.“ Der Typ wirkte sportlich, hatte dichtes, rötlich-blondes, von grauen Strähnen durchzogenes Haar und trug einen Dreitagebart. Das erhitzte Gesicht, die Trainingshose und die Sportschuhe wiesen darauf hin, dass er gerade eine Joggingrunde beendet hatte. Auch er kam mir irgendwie bekannt vor.
„Diese Stimme …“ Er lächelte mich an. „Habe ich richtig verstanden – Falkenberg? Wenn du mir nun noch sagst, dass dein Vorname Harald ist, dann falle ich auf der Stelle um.“ Sein Lächeln wurde breiter.
Jetzt war ich es, der verdutzt reagierte. Woher kannte er mich?
„Siehst verdammt gut aus, jetzt, wo deine Haare langsam grau werden, Harald. Ist doch so, ich habe mich nicht getäuscht, oder?“
„Ich bin wahrscheinlich nicht mehr der Jüngste, aber ich brauche noch einen Moment, um mich zu erinnern.“
„Also habe ich tatsächlich recht?“
Jetzt klopfte mir der Typ auf die Schulter. „Mensch, Harald, ich kann es kaum fassen, aber habe ich mich denn tatsächlich so verändert? Ich bin’s, Jan – Jan Hohmeister.“
Ich fiel aus allen Wolken. „Moment mal – Jan? Etwa der Jan, mit dem ich studiert habe?“ Ich hatte ihn tatsächlich nicht mehr erkannt.
Hohmeister schickte sich an, Platz zu nehmen. „Na ja, Hohmeister heißen schließlich nicht allzu viele Jans. Darf ich mich setzen?“ Er nahm Platz, bevor ich reagieren konnte.
„Bitte sehr.“
Hohmeister hatte mit mir zusammen Psychologie