»Doch, er ist tot. Er wurde getötet.«
Sie riss überrascht den Kopf hoch. »Getötet? Sind Sie sicher?«
Er nickte und stöhnte gleich darauf laut auf. Dann holte er ein Taschentuch aus seinem kleinen Handkoffer und wischte sich damit über die Stirn.
»Wie?«
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Vielleicht können Sie es mir sagen.«
Sie sog überrascht die Luft ein. »Was soll das denn heißen?«
Sein Gesicht verzog sich. »Das ist noch nicht heraus. Wir warten noch auf den Bericht des Leichenbeschauers.«
Isabelle schüttelte langsam den Kopf. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ein Mörder in ihrem Stadthaus? Ihr wurde eng um die Brust. »Und meine Nichte, Rose Lawrence? Haben Sie sie gesehen? Ist sie wohlauf?«
»Ja, sowohl als auch.«
Sie atmete erleichtert auf. »Gut.«
Eine Bewegung fiel ihr ins Auge, sie blickte auf. Hinter der Veranda war die hohe Wölbung eines Huts zu sehen.
»Teddy!« Isabelle winkte ihrem Freund zu. Carlota, fiel ihr ein, hatte erwähnt, dass der Arzt bei einigen ihrer Pächter gewesen war, den Howtons und Abel Curtis.
Curtis. Der Name versetzte ihr einen Stich, aber es war nicht mehr so schlimm wie früher. Abel war ihr Hausmeister und der Vater des jungen Mannes, den zu lieben sie sich einst eingebildet hatte. Der, der sie in ihrem Traum hatte fallen lassen – Evan Curtis.
Dr. Theodore Grant stieg die Stufen herauf und kam mit seinen langen Beinen über die Veranda auf sie zu. Er hatte rötliches Haar und grüne Augen, die den Mann neben ihr misstrauisch fixierten. Teddy war fast zwei Jahre älter als sie, doch sein Gesicht wirkte noch immer jungenhaft. Er und Evan waren mit ihr zusammen auf der Insel aufgewachsen.
»Was ist denn los, Isabelle? Stimmt etwas nicht?«
»Mr Booker scheint einen Schwindelanfall zu haben.«
Er zog die Brauen hoch. »Er ist zu Besuch, aus London – ein Anwalt aus Onkel Percivals Firma«, erklärte sie rasch.
Sie blickte wieder auf den zusammengesunkenen, vornübergebeugten Mann. »Mr Booker, das ist Dr. Grant, der Arzt des Ortes und ein Freund der Familie.«
Der Anwalt stöhnte erneut auf. »Ich brauche keinen Arzt.«
»Dr. Grant ist aber ein ganz ausgezeichneter Arzt. Er kann Ihnen bestimmt helfen.«
Sie wandte sich an Teddy. Bei ihrem Lob strafften sich seine Schultern und seine Brust wölbte sich.
»Ich würde Ihnen sehr gern helfen, wenn ich kann.«
»Es ist gleich vorbei«, beharrte der Anwalt. Er stand auf, schwankte jedoch sogleich wieder und taumelte.
Teddy nahm seinen Arm. »Kommen Sie, Mr Booker. Sie müssen sich hinlegen, dann geht es Ihnen besser.«
Isabelle zögerte. »Oh ja, natürlich«, sagte sie dann. »Wir können ihn in eins der Gästezimmer oben bringen.«
Mr Booker schüttelte den Kopf. »Ich wollte mir eigentlich ein Zimmer im Gasthaus nehmen.«
»Nicht nötig«, sagte sie. »Es sei denn … Können Sie noch Treppen steigen? Wenn nicht, kann ein Diener helfen, Sie hinaufzutragen …«
»Das schaffe ich schon«, brachte Mr Booker zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Sein Gesicht war blass und glänzte vor Schweiß.
Dr. Grant nahm einen Arm, sie den anderen und zusammen führten sie den Anwalt durch die Tür. Aus irgendeinem Grund sank ihr der Mut bei dem Gedanken, diesen Mann in ihr Haus einzuladen, doch Mitleid und Pflichtgefühl waren stärker als ihr Bedürfnis, dem unguten Gefühl nachzugeben.
Benjamin lag in Hemd und Hose auf einem gemachten Bett; sein Gehrock hing über einem Stuhl. Er sah sich in dem ansprechenden Zimmer mit dem ausgeblichenen, aber schönen Teppich um. Der Raum duftete schwach nach getrockneten Rosen, Staub und altem Geld.
»Waren Sie kürzlich krank?«, fragte Dr. Grant.
»Nur eine kleine Erkältung.«
»Das erklärt aber nicht den Schwindel.«
»Wissen Sie, ich leide einfach hin und wieder unter Schwindelanfällen. Es war allerdings noch nie so schlimm.«
Dr. Grant nickte. »Es scheint, dass Sie eine Art Blutstau in den Ohren haben. Das könnte der Auslöser gewesen sein.«
»Ja, und das Gerüttel und Schlingern auf der Reise hat es noch verstärkt.« Benjamin fuhr sich mit dem Taschentuch über seinen verschwitzten Hals. Hoffentlich beschmutzte er nicht die Kissen.
»Sie reisen nicht oft?«
»Nein. Ich wohne in der Nähe des Büros. Gelegentlich muss ich eine Kutsche nehmen, aber die gepflasterten Straßen in London sind glatt wie Glas, verglichen mit den tief gefurchten Landstraßen, auf denen ich hergekommen bin. Der Kutscher hat mich ganz schön durchgerüttelt, kann ich Ihnen sagen. Ein Fahrgast musste sich sogar übergeben; ein zweiter hätte es ihm beinahe gleichgetan.«
»War der Zweite ein Anwalt?«, fragte Dr. Grant nach.
»Ja, das war er.«
»Die anderen Fahrgäste wussten Ihre Selbstbeherrschung bestimmt zu schätzen.« Dr. Grant ließ seine Tasche zuschnappen. »Ich kenne mich mit Schwindel leider nicht allzu gut aus, obwohl ich mich bei einem Experten für kurze Zeit mit Melancholie und Hysterie befasst habe.«
Benjamin hob flehentlich die Hände. »Wie ich schon sagte, es ist nichts Ernstes. Nur ein leichter Schwindel.«
»Das sollten Sie trotzdem nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Dr. Grant stand auf. »Ich werde in meinen Büchern nachschlagen und sehen, was ich finden kann. Ruhen Sie sich heute erst einmal aus. Bleiben Sie so ruhig wie möglich liegen. Morgen früh schaue ich wieder bei Ihnen vorbei.«
»Sehr freundlich von Ihnen und Miss Wilder, aber ich bin kein Invalide.«
»Ärztliche Anordnung!« An der Tür drehte Theodore Grant sich um. »Was führt Sie eigentlich her, wenn ich fragen darf?«
»Der Tod von Percival Norris. Er wurde ermordet.«
Die grünen Augen des Arztes wurden groß. »Ermordet? Du liebe Güte! Aber man sollte doch annehmen, dass das Sache der Bow Street ist.«
»Sein Tod wird untersucht. Ich bin auf Bitten eines unserer Seniorpartner hier – um die Familie von dem Todesfall in Kenntnis zu setzen und an Mr Norris' Stelle juristischen Rat anzubieten.«
Der Arzt hatte ihm aufmerksam zugehört; jetzt sagte er: »Ich dachte, Mr Norris hätte sich aus dem Geschäft zurückgezogen, um sich ganz der Verwaltung des Wilder-Anwesens widmen zu können.«
»Nun, jetzt hat er sich im wahrsten Sinne des Wortes aus allem zurückgezogen.«
Dr. Grant ging zu Isabelle ins Arbeitszimmer ihres Vaters, das sie jetzt als Büro für ihre kleine Firma, eine gut gehende Korbmanufaktur, nutzte. Der Hund der Familie, Hamish, lag auf einem Teppich am Kamin.
»Wie geht es Mr Booker?«, fragte sie.
Teddy