Unterschiedliche Wertvorstellungen sind ein idealer Nährboden für Konflikte zwischen Menschen. Wertekonflikte können aber auch innere Konflikte in uns auslösen, zum Beispiel wenn wir etwas tun, was uns eigentlich widerstrebt. Werte können demnach sowohl der Auslöser als auch die zentrale Instanz für die Bewältigung von Belastungen sein. Sie sind zugleich Antreiber und Bremser unserer Fähigkeiten.
Die Ursprünge des Modells
Das Modell der 9 Levels of Value Systems® basiert auf den Erkenntnissen von Clare W. Graves (1914–1986), einem Psychologieprofessor am Union College in Schenectady bei New York (USA). Er war nicht nur in der Forschung tätig, sondern auch viele Jahre als Berater in Wirtschaftsunternehmen, Kliniken und Bildungsinstituten aktiv. Den Anstoß zu seinen Forschungen bekam Graves von seinen Studenten, die wissen wollten, wer von den vielen Theoretikern (Maslow, Freud, Jung, Rogers, Watson etc.) denn nun recht habe. Graves konnte diese Frage nicht eindeutig beantworten, wollte dafür aber einen Weg finden und startete eigene Untersuchungen. Eines seiner zentralen Forschungsvorhaben war die Ergründung der psychologischen Entwicklungsstufen des menschlichen Wesens. Er gab seinen Studenten dafür die Aufgabe, einen Bericht über das »erwachsene menschliche Wesen« zu schreiben. Bei der Auswertung der Aufsätze fiel ihm auf, dass die Beschreibungen der Studenten zwar sehr unterschiedlich waren, sie sich aber gruppieren ließen, da wiederkehrende Muster zu erkennen waren.
Wie würden Sie ein »erwachsenes menschliches Wesen« beschreiben? Durch welche Merkmale zeichnet es sich für Sie aus?
Vergleichen Sie Ihre Antwort mit den kennzeichnenden Werten der einzelnen Levels, die wir an späterer Stelle in diesem Kapitel vorstellen. So erhalten Sie eine erste Idee, an welcher Stelle sich Ihr persönliches Wertesystem im Graves’schen Modell verorten lässt.
Graves veröffentlichte seine Erkenntnisse 1966 in einem Harvard-Business-Review-Artikel mit dem Titel »Deterioration of Work Standards« – es ging also um die Verschlechterung der Standards in der Geschäftswelt. In diesem Artikel bezeichnete er sein Modell als »Levels of Human Behaviour«. Später beschrieb er seine Theorie als »Emergent, cyclical doublehelix model of adult biopsychosocial systems development«. Frei übersetzt: eine aufwärtsstrebende zyklische Doppelhelix der Entwicklung des erwachsenen Menschen in dessen biopsychosozialem System. Dieses Modell beschreibt die menschliche Entwicklung nicht nur sehr komplex, sondern auch multiperspektivisch, und es verdeutlicht, wie unterschiedlich Menschen auf sich, andere und die Welt schauen können.
Die 9 Levels of Value Systems® sind eine Vereinfachung der Graves’schen Theorie und ermöglichen die Verortung eines konkreten Wertesystems in seinem Entwicklungsmodell. Dabei kombinieren sie das theoretische Modell mit einem validen wissenschaftlichen Analysetool sowie der langjährigen Erfahrung mit dem Modell in der Beratungs- und Coachingpraxis.
Drei Analyseperspektiven: PVS, GVS und OVS
Wie bereits beschrieben, funktionieren die 9 Levels of Value Systems® sowohl für einzelne Personen als auch für Teams und Organisationen. Über einen wissenschaftlich validen Analysebogen wird der aktuelle Ist-Zustand und / oder der Soll-Zustand des Wertesystems einer Person, Gruppe oder Organisation erfasst. Es wird einerseits analysiert, wie stark die jeweilige Stufe – im Folgenden »Level« genannt – ausgeprägt ist. Andererseits wird auch beleuchtet, ob und wie stark ein Widerstand gegen den jeweiligen Level vorhanden ist, das heißt wie sehr die Person, Gruppe oder Organisation nicht mit den Werten und den daraus abgeleiteten Denk- und Verhaltensweisen übereinstimmt.
Das Personal Value System (PVS) analysiert das Wertesystem einer individuellen Person, fokussiert auf einen ausgesuchten Lebensbereich. Denn je nach Rolle und Aufgabe kommen bei uns verschiedene Wertesysteme zum Tragen und verändern so unsere Bewertungen und Verhaltensweisen. Je nachdem, welche Herausforderungen die Lebenswelt mit sich bringt.
Beim Group Value System (GVS) steht ein definiertes Team im Fokus: Wie sieht das Wertesystem der Abteilung oder der Projektgruppe aus? Das Group Value System gibt eine Antwort darauf, welche Werte die befragten Personen subjektiv im Team wahrnehmen. Diese Einschätzungen können einheitlich, aber auch sehr unterschiedlich ausfallen – und ergeben damit spannendes Reflexionsfutter, zum Beispiel für eine Teamentwicklung.
Das Organisation Value System (OVS) erfasst das Wertesystem einer Organisation. Auch hier geht es primär darum, welche Werte die Befragten in ihrer Organisation wahrnehmen. Ob und welche Übereinstimmungen und Diskrepanzen so zum Beispiel zwischen einzelnen Abteilungen, Standorten, Hierarchieebenen oder zu den definierten Unternehmenswerten aufgedeckt werden, kann dann ein Impuls für Change-Projekte, Transformationsvorhaben und Co. sein.
Abgrenzung zu anderen diagnostischen Verfahren
Im deutschsprachigen Weiterbildungs- und Beratermarkt gibt es eine Vielzahl ganz unterschiedlicher diagnostischer Verfahren. Um zu verstehen, wie sich das Personal Value System in deren Gesamtheit einordnen lässt, bietet sich ein einfacher Vergleich an: Stellen Sie sich die menschliche Persönlichkeit wie eine aufgeschnittene Zwiebel mit mehreren Schichten vor. Die äußerste Schicht ist unsere von außen beobachtbare Wirkung. Darunter folgt die Schicht unseres Verhaltens. Noch tiefer in unserer Persönlichkeit verwurzelt sind unsere Werte. Den »Kern« unserer Persönlichkeit machen schließlich unsere Motive aus.
Abb. 1: Zwiebelmodell der menschlichen Persönlichkeit (Quelle: Institut für Persönlichkeit)
Jede dieser Schichten kann durch diagnostische Instrumente näher erfasst werden:
Wie bereits erwähnt, werden auch über das Group Value System und das Organisation Value System jeweils Analysen auf der Werteebene vorgenommen. Da es sich jedoch um eine Erhebung der Werte eines Teams bzw. einer Organisation