Diese Revolution hat zwei entscheidende Phasen, Phasen der Radikalisierung. Nach dem Frühling kommt gleich der Herbst. Einen Sommer gibt es hier nicht (und auch deswegen ist diese Revolution vergessen). Die erste Phase reicht vom November 1918 bis Januar 1919 – sie enthält einen kurzen Frühling Anfang November, aber schon Anfang Dezember beginnt der Herbst, und spätestens im Januar formiert sich massiv die Gegenrevolution. Die zweite Phase beginnt im Februar 1919, ein zweiter Frühling, eine zweite Revolution scheint möglich, doch umso schlimmer wird der zweite Herbst, der zur gleichen Zeit die zweite Revolution überlagert und buchstäblich im Massenterror tötet. Dies geht bis zum Mai 1919. Ein dritter Frühling nach einem konterrevolutionären Putsch, dem Kapp-Putsch 1920, führt erneut zu Massakern, Massakern der von den Massen geretteten Regierung an diesen Massen.
Wir haben es bei diesem verpassten Frühling, wie gesagt, mit zwei Bewegungen zu tun. Zum einen die der radikaldemokratischen Massenbewegung gegen den Krieg hin zur sozialistischen Massenbewegung: die Rätebewegung. Und die der arbeiterbürokratischen Unterstützer des Krieges, die über die Zusammenarbeit mit den alten militärischen Mächten und aufgrund abbröckelnder Wählerschaft schließlich zum Staatsterror schritten.
Dies geschah unter dem Beifall der alten herrschenden Eliten, der neuen und alten Kapitalisten, der Junker, des Adels, des Bürgertums, des Kleinbürgertums, fast der ganzen, auch der alten sozialdemokratischen Presse, der Liberalen, großen Teilen der konservativen Intellektuellen und – eher widerstrebend – Teilen der eigenen SPD-Anhänger, eben all jener, die das mythische »Augusterlebnis« des Kriegseintritts 1914 kurzzeitig zu einer Weltkriegsaggressionseinheit, ja Welteroberungsgemeinschaft zusammengeschweißt hatte. Nur noch Deutsche. Man könnte es auch als »zweites Augusterlebnis« oder als »Frühjahr der Konterrevolution« bezeichnen. Die nationale Erhebung einer radikalen Volksgemeinschaft, deren militärischer Arm die neuen Freikorps aus alten und neuen uniformierten Kampfmaschinen bildeten, die einen Terror produzierte, den es bis dahin im Innern des Deutschen Reiches nicht gegeben hatte und der den Grund bereitete für die 14 Jahre später folgende Naziherrschaft.
Das unmittelbare Ergebnis war die Weimarer Republik, eine ungeliebte, verkorkste parlamentarische Demokratie mit verkorkster Verfassung sowie auf Rache sinnende Herrschende in Wirtschaft, Verwaltung und Militär, die den selbstverschuldeten verlorenen Krieg ihren zeitweiligen Verbündeten in den Arbeiterbürokratien gekonnt anlasteten und auf eine neue Diktatur mit neuer militärischer Weltmacht und Krieg hinsteuerten. Die angebliche Schmach von Versailles 1919 tat ihre Wirkung bis weit in die linken Parteien hinein.
Das Scheitern der Novemberrevolution 1918/19 als basisdemokratischer Revolution der Massen ist historisch zwar keine hinreichende Bedingung für Nazideutschland, Holocaust und Zweiten Weltkrieg gewesen, aber eine notwendige. Dabei hätte alles anders kommen können.
Kurze Geschichte der Geschichte der Novemberrevolution
Der 100. Jahrestag dieser Revolution wird hoffentlich eines bewirken: sie dem Vergessen zu entreißen. Denn die Novemberrevolution 1918 ist der vergessene Frühling des 20. Jahrhunderts. Das Vernichtungswerk der Nazis, das sich immer auf diese Revolution bezog, der Hitler-Putsch im November 1923, mehr noch der November 1938 mit dem staatlich organisierten deutschlandweiten Judenpogrom und dem folgenden Massenmord schaffte es, die erste erfolgreiche Demokratiebewegung in diesem Land aus der Erinnerung der Deutschen zu tilgen. Obendrein – was für ein Zufall – tat der November 1989 mit dem Ende der DDR, der letzten Ausgeburt des verpassten Frühlings, ein Übriges.
Was die Beurteilung der deutschen Revolution von 1918/19 durch Historiker angeht, gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges im Westen und dann in der vereinten Republik auch zwei Strömungen, die sich immer wieder abwechseln, von denen die eine immer wieder alte Kamellen anbietet, die andere immer wieder Neues hervorbringt, auch wenn sie partiell Täuschungen unterlegen sein sollte.13
In der BRD gewann in den 50er Jahren die These von der Abwehr des Bolschewismus durch die SPD-Führer die Oberhand. Sie stützte sich auf alte Mythen, die im Bürgertum und der Sozialdemokratie kursierten, seit Wladimir Iljitsch Lenin und die Bolschewiki die Duma, das russische Parlament, vertrieben hatten und ihre Herrschaft mit Terror festigten.
Vorherrschend war die weit verbreitete Ansicht, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die revolutionären Massen, die USPD und die KPD, alle unter dem Begriff »Spartakisten« über einen Kamm geschoren, wollten in Deutschland eine Herrschaft wie Lenin und Trotzki und später Stalin in Russland errichten. Dies wurde noch verfestigt durch die DDR-Geschichtsschreibung, welche den Einfluss von Spartakus und KPD stark übertrieb.
Doch schon Ende der 50er Jahre entdeckten jüngere Historiker wie Peter van Oertzen, Eberhard Kolb und Ulrich Kluge die Räte und bedauerten die verpassten Chancen. Die 68er nahmen sich die Räte gar zum Vorbild. Ende der 80er kam es schon vor dem Ende der Sowjetunion und der DDR zum Rollback, der sich nach dem Untergang des »Realsozialismus« dann noch verstärkte. Frühere Ebert-kritische Historiker wie Winkler ruderten zurück und sahen 1918/19 durch die alternativlose Politik von Ebert et al. einen Bürgerkrieg verhindert.14
Nach der Jahrtausendwende sind dann zwei sich überlagernde Entwicklungen zu beschreiben: Die eine treibt den Rollback auf die Spitze, angeführt von Christopher Clarks Die Schlafwandler, wo massenwirksam die Regierungen Deutschlands und Österreich-Ungarns zu Unschuldslämmern mutieren und der Erste Weltkrieg im Wesentlichen durch Serbien, Russland, Frankreich und Großbritannien verursacht wird.15 Dem schlossen sich zahlreiche deutsche Historiker an und fühlten sich endlich befreit von früher deutscher Verantwortung für ein Massenmorden, das vom deutschen Wesen gar nicht ausgegangen sein konnte.
Eine zweite Entwicklung ist dagegen erfreulich: Junge Historiker entdecken die Räte neu, verhelfen den basisdemokratischen Massen wieder zu ihrem Platz in der Geschichte und machen klar, welch Jahrhundert-Frühling hier möglich gewesen wäre.
Neueste Forschungen
Seit über 30 Jahren beschäftige ich mich als Sozialwissenschaftler mit der Novemberrevolution.16 Ausgewertet wurden hier neben bekannten und bisher meist unbenutzten Quellen17 einschlägige Sekundärliteratur sowie die neuesten Arbeiten von Volker Ullrich (2009), Ottokar Luban (2009), insbesondere aber die junger Historiker: Ralf Hoffrogge (2008/2013), Dietmar Lange (2012), Axel Weipert (2013), Florian Wilde (2013), neuere Sammelbände von Alexander Gallus (2010) und von Ulla Plener (2009/2013) und zudem die Arbeit des irischen Historikers Mark Jones (2017), der wichtige Thesen meines Buches Der Konterrevolutionär (2008) bestätigt. Last but not least: Joachim Käppner (2017), Wolfgang Niess (2017), Sebastian Zehetmair (2017).
Diese Arbeiten haben neue Aspekte zur Novemberrevolution hervorgebracht. Sie führen einerseits zur Neubewertung des Terrors, der durch den Pakt SPD/OHL entstand. Sie zeigen aber auch, dass die Räte eine große historische Chance hatten.
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