November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Klaus Gietinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Gietinger
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783960540762
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wussten.115

      Der Matrose Stumpf berichtet in seinem Tagebuch, dass auf »drei Panzerkreuzern von den Heizern die Feuer« absichtlich »gelöscht wurden. […] Am schlimmsten tobte der Aufstand auf dem früheren Musterschiff Thüringen116 Das Torpedoboot B 97 und ein U-Boot wurden gerufen und richteten Rohre gegen die Thüringen. Das Großkampfschiff Helgoland – hier hatten die Aufständischen schon die Geschütze besetzt – nahm dafür das Torpedoboot mit 30,5cm-Rohren aufs Korn. Als der Dampfer mit den Verhafteten im Nebel von »Schlicktown« verschwand, schallte ihnen von der Helgoland ein dreifaches »Hurra!« entgegen, das prompt aus dem Innern des Dampfers erwidert wurde.117 Die Admiralität blies das Himmelfahrtskommando gen England ab und schickte das III. Geschwader durch den Nord-Ostsee-Kanal nach Kiel. Weitere Verhaftungen wurden vorgenommen. Insgesamt waren jetzt 1000 Matrosen festgesetzt.118 Doch die Marineführung verzichtete darauf, den Vorschlag, den Korvettenkapitän Bogislav von Selchow in seinem Tagebuch festhielt, umzusetzen, nämlich die ersten Meuterer »an der Rah aufzuhängen«119. Um die Lage zu beruhigen, gab es Landgang. Doch die Matrosen versammelten sich auf einem Exerzierplatz und verlangten die Freilassung der Festgenommenen. Die Versammlungen wurden von Tag zu Tag größer. Am 3. November waren es bereits 5–6000.120 Beschwichtigungen des SPD-Funktionärs Gustav Garbe fruchteten nicht. Die Matrosen machten sich auf, ihre gefangenen Kameraden aus der Arrestanstalt zu befreien. Nachdem ein Kommando des Leutnants Oskar Steinhäuser vor dem Café Kaiser auf die Demonstranten geschossen hatte, diese das Feuer erwiderten, es Tote gab121 und auch die Kieler Feuerwehr zum Einsatz kam, schien erst einmal Ruhe einzukehren. Der Gouverneur von Kiel, Admiral Wilhelm Souchon, ließ angeforderte Truppen wieder umkehren. Doch die Ruhe war trügerisch. Als der Divisionskommandeur Kapitän zur See Bartels am nächsten Tag in der Torpedodivision an Land die sinnige Rede hielt: »Soldat soll gehorchen, Soldat muss gehorchen, und Soldat gehorcht«122, forderte der Maschinenschlosser Karl Artelt die Wahl von Soldatenräten und präsentierte die Forderungen der Matrosen. Sie waren noch moderat, aber bereits politisch geworden. Neben der Freilassung der Gefangenen forderten sie auch die Abdankung der Hohenzollern und die Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts für beide Geschlechter123. Die Arbeiter in den Werften legten ihre Arbeit nieder, die Matrosen in den Kasernen solidarisierten sich. Waffenkammern wurden gestürmt.

      Artelt fuhr mit einem Lastwagen und einer riesigen roten Fahne zum Gouverneur Souchon, der sich gezwungenermaßen verhandlungsbereit zeigte und den ersten Soldatenrat der deutschen Geschichte empfing. Ankommende Truppen am Hauptbahnhof wurden von den Aufständischen unter Hurra-Rufen »als Brüder« begrüßt, umarmt und entwaffnet, die Offiziere verprügelt.124

      Die Matrosen befreiten ihre Kameraden, hissten, was nur wenige Offiziere zu verhindern suchten, auf des Kaisers Schiffen die rote Flagge, wählten einen Soldatenrat, zum Vorsitzenden den ehemaligen Bonbonhändler und USPD-Mann Lothar Popp125 und wurden für kurze Zeit Herren der Küstenstädte.

      Sogleich wusste Scheidemann (SPD) in Berlin, was zu tun war: Noske wurde nach Kiel entsandt, wo er am 4.11.1918 abends ankam, um die Revolution »zu kanalisieren«126. Doch auch Noske konnte nicht verhindern, dass die Revolution durch die ausschwärmenden Matrosen ins ganze Land flutete.

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      Abb. 10 Kieler Matrosen demonstrieren, 3.11.1918

      Die Küstenstädte Wilhelmshaven, Lübeck, Hamburg, Bremen, Rostock sowie die Städte Schwerin, Wismar, Warnemünde schlossen sich dem Aufstand an. Matrosen eilten nach Hannover, Braunschweig, Köln, Frankfurt und nach Berlin.

      Scheidemann und Bauer, Mitglieder der kaiserlichen Regierung in der Hauptstadt, unterschrieben den Regierungsaufruf: »Die Regierung und mit ihr die Leitung von Heer und Flotte wollen den Frieden. […] Die Mannschaften des Landesheeres und der Flotte, wie ihren Führern, gebührt unser besonderer Dank. Durch Todesmut und ihre Manneszucht haben sie das Vaterland gerettet.«127 Die Führer der Flotte?

      Die SPD-Führung versuchte am 6.11.1918 im Schulterschluss mit der OHL und Generalquartiermeister Groener die demokratische Revolution zu ersticken. Scheidemann, Bauer, Legien, David, Südekum und Ebert erschienen in der Reichskanzlei und setzten ihre ganzen Hoffnungen auf Groener. »Vom ersten Augenblick – so wurde mir berichtet – war das alte Vertrauen da«128, so Max von Baden. Mit Tränen in den Augen bestürmen die SPD-Männer Groener, er solle den Kaiser zur Abdankung bewegen und einen seiner Söhne als Nachfolger einsetzen. Nur so sei der Übergang der Massen in das Lager der Revolutionäre zu verhindern. Groener lehnte ab, war aber der Überzeugung, dass keiner der »Herren etwa auf die Revolution hinstrebten«129. Scheidemann erfuhr im selben Moment, dass die Matrosen in den Küstenstädten die Macht erlangt hätten und riet zitternd zum Handeln: »Wir wissen nicht, ob wir morgen noch auf den Stühlen sitzen.«130 Groener blieb immer noch hart – was er später bereute.131 Ebert erwies ihm seine Reverenz: »Wir danken Ihnen, Exzellenz, für diese offene Aussprache und werden uns stets gern der Zusammenarbeit mit Ihnen während des Krieges erinnern. Von nun an scheiden sich unsere Wege, wer weiß, ob wir uns je wiedersehen werden.«132 Hier irrte Ebert.

      Am 7. November stürzte Eisner als Anführer einer Großdemonstration in München die Wittelsbacher Dynastie und verkündete den Freien Volks- bzw. den Freistaat Bayern.

      In Berlin hatten »die Regierung Max von Badens, das Militär und die Polizei versucht, die Stadt von den Matrosen abzuriegeln. Der Militärbefehlshaber Generaloberst von Linsingen befahl den Einsatz von Chemiewaffen und Bomben aus Flugzeugen gegen auf Berlin zufahrende Züge. Doch Kriegsminister Schëuch verhinderte es am 8. November – mit Mühe und Not.133 Erst ein SPD-Oberbefehlshaber sollte solche Einsätze Wochen später erlauben.

      Zur Streikabwehr wurden wichtige Rüstungsbetriebe militärisch besetzt, die Kommunikationsmittel Telegraf und Telefon unterbrochen, die Schienenwege nach Berlin vor der Stadt zerstört und Demonstrationen verboten. Trotzdem erreichten unzählige Matrosen die Hauptstadt, gejagt und verhaftet von Militärkommandos. Obwohl ein revolutionärer Matrose schon am 3. November aus erster Hand den Obleuten vom Aufstand in den Küstenstädten berichtete, blieb es beim 11. November als Revolutionstermin.

      Die SPD versuchte mit einer großangelegten Pressekampagne ihre Basis zu beruhigen.134 Schon am 31. Oktober hatte Friedrich Ebert Furcht gezeigt vor dem »Augenblick, da die Masse, die Straße, unter dem Einfluss der Unabhängigen die Durchführung unsres Parteiprogramms von uns verlangt und eine Republik fordert.« Denn »Deutschland ist nicht reif für eine Republik«135.

      Mit Parteiprogramm war das Erfurter Programm der SPD von 1891 gemeint, das das gleiche und direkte Wahlrecht forderte, die Gleichstellung der Frau, den Achtstundentag, Arbeitsschutz, Verbot der Kinderarbeit und Religionsfreiheit. Hatte Ebert davor Angst? Offensichtlich. Doch am meisten Unbehagen dürfte ihm der erste Teil des Programms bereitet haben, denn hier wurde die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, also die Sozialisierung gefordert.

      Die Verhaftung von Revolutionären sollte abschreckend wirken. Es war zu spät. Die Festsetzung Ernst Däumigs, der verraten wurde und auch noch den Aufstandsplan der Obleute bei sich trug136, bewirkte das Gegenteil. Barth und Liebknecht zogen den Aufstandstermin unabhängig voneinander vom 11. auf den 9.11. vor. Am Abend beschlossen die Obleute und die Spartakusgruppe die Revolution für den nächsten Tag, den 9. November 1918.

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