Faust & Helena. Claudia Schmölders. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claudia Schmölders
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783946334385
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gesamte Nation, auch in ästhetischer Hinsicht total bis ins Groteske. Hitler als grausamer Graekomane bemächtigte sich in Winckelmann ausgerechnet einer Ikone der »Griechenliebe«; homoerotische Neigung übersetzte man in spartanische Körperzucht, vor allem im Umkreis der Olympiade 1936, künstlerisch monumental von Leni Riefenstahl und Arno Breker erfasst, aber im Kern längst auf Kriegstüchtigkeit ausgerichtet. Wegen seiner Kritik am französischen Stil wurde Winckelmann unter Hitler vorbildlich als Franzosenhasser, der einen »wahren Alexanderzug um Reiche der Seele und des Geistes« vollbracht habe, und der einstige Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom, Ludwig Curtius, nannte ihn 1941 bewundernd gar »einen der geistigen Diktatoren Europas«.

      In Wahrheit war die Entdeckung der griechischen Welt um 1750 in ganz Europa im Gang. Während Winckelmann seine Träume träumte, schickte die englische Society of Dilettanti Kunstkenner in das wirkliche Land, um genaue Zeichnungen der verfallsbedrohten Kunstwerke anzufertigen. Das mächtige Werk von James Stuart und Nicholas Revett erschien ab 1762 in drei Bänden: »The Antiquities of Athens, measured and delineated« – und zusammen mit den Beschreibungen des mitreisenden Schriftstellers Richard Chandler sowie den Berichten auch parallel aus französischer Hand ließ sich allmählich der antike Klassiker der Landeskunde, Pausanias, nachvollziehen, konnte man griechischen Boden und griechisches Leben en détail erobern.

      Wohl keine fremde Kultur ist derart penibel beschrieben worden wie die hellenische, keine fremdsprachige Literatur derart untersucht, angeeignet und geliebt und keine Kunst aus Stein derart imitiert worden wie die des alten Griechenland. Aber natürlich unterschieden sich die Nationen dabei charakteristisch. Während die Deutschen mit Winckelmanns Werk eine Art Evangelium erhielten, dem sie treu bleiben wollten wie ihrem Homer und ihrem Platon, hielten die Engländer sich an die Wirklichkeit: als Reisende und Zeichner, als Kunsthändler und Seemacht, als Räuber und Politiker. Ein englischer Geistlicher gilt als Begründer der modernen griechischen Archäologie. John Potter, Sohn eines Weißwäschers, war ähnlich begabt und von der Antike begeistert wie Winckelmann; sein zweibändiges Meisterwerk »Archaeologia graeca« von 1697/98 hielt sich als englisches Standardwerk bis zu den berühmten »Dictionaries« von William Smith im Jahre 1842. Potter brachte es bis zum Erzbischof von Canterbury; durch die deutsche Übersetzung seines Buches 1775/78 kam der Ausdruck »Archäologie« überhaupt erst nach Deutschland.

      Nachrichten über Griechenland aus englischen Quellen hatten, anders als deutsche, gern etwas Abenteuerliches, wenn nicht Skandalöses an sich. Das begann 1786, als Goethe auf seiner Italienreise den britischen Botschafter im Königreich Neapel, William Hamilton, besuchte und den alten Kunstsammler mit einer jungen schönen Mätresse fand; zusammen hatten die beiden eine neue Kunstrichtung erfunden: griechischen Tanz, griechische Kleidung, lebendig ins Werk gesetzt nach den Vorlagen der hellenischen Vasenkunst, die Hamilton durch die Ausgrabungen von Herkulaneum und über den Kunsthandel in sein Haus brachte. Später verkaufte er seine große Sammlung dem Britischen Museum. Seine junge Frau Emma Hart, aus ärmlichsten Liverpooler Verhältnissen, machte mit Anmut und Geschick steile Karriere, nicht nur als Botschaftergattin, sondern um 1800 auch als Geliebte des Admirals Lord Nelson, zum Schrecken der hohen Gesellschaft diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Europaweit umstritten war auch Lord Elgin, um 1800 Botschafter im osmanischen Athen, der große hellenische Architekturen kopieren, vor allem aber auch demontieren ließ. In einem Vertrag mit der türkischen Regierung, der sogenannten »Hohen Pforte«, ließ er sich bescheinigen, dass er nicht nur Abgüsse aus Gips herstellen, sondern sogar originale Stücke abnehmen konnte; schließlich dürfe man herrliche Kunst wie diese nicht verfallen lassen. Elgin barg oder nahm sich mehr als die Hälfte des berühmten Frieses aus dem Athener Parthenon, in dem der größte hellenische Bildhauer Phidias und seine Schüler die Schlacht bei Marathon unerhört modelliert hatten. Elgin verschiffte die Sammlung zusammen mit vielen anderen wertvollen Stücken 1803 nach England; aber wie unter göttlichem Zorn verschwand die Ladung bei einem Schiffbruch teilweise im Meer. Erst nach dreijähriger Arbeit und unter astronomischen Kosten konnten Taucher die Kunstwerke bergen. 1812 landeten schließlich achtzig Kisten mit den sogenannten »Elgin Marbles« in London. Erst vier Jahre später, nach umständlichen Verhandlungen, konnte der Lord sie endlich für 35.000 Pfund Sterling an das Britische Museum verkaufen; die Summe deckte angeblich nur die Hälfte der eigenen Kosten.

      Der ganze Vorgang war unerhört. Während Lord Elgin die hellenische Welt partikelweise ins Europa der Christen brachte und damit ein Stück handgreifliche griechische Realität, wurde seine Transaktion heftig kritisiert. Man hielt ihn für einen Räuber; er hatte der griechischen Kultur ein zentrales, wenn nicht das wichtigste Zeugnis einstiger Größe zerstört. Scharfe Worte fand damals auch der skandalumwitterte Dandy Lord Byron, der Griechenfreund, Goetheverehrer und Dichter, dessen Versepos »Childe Harold’s Pilgrimage« im selben Jahr 1812 in zwei Gesängen erschienen war. Es war das romantisch verzweifelte Selbstporträt eines Reisenden ins Osmanische Reich, der natürlich auch bis zum Athener Parthenon kam und Klage erheben konnte.

      Auch Goethe, der begeisterte Philhellene, hatte inzwischen mit einer Art Trauerarbeit begonnen. Mit seiner Anthologie über »Winckelmann und sein Jahrhundert« (1805) erinnerte er noch einmal an die grundstürzende Sehnsucht und die Leistungen dieses Kunstphilosophen. Das Buch wurde ein tiefgehender Abschied vom Griechentraum, denn im selben Jahr 1805 starb auch sein Freund Schiller, der mit ihm zusammen so vielfach der Antike gehuldigt hatte. Schon 1788, im Jahr der »Iphigenie«, hatte Schiller das erste ernüchterte Poem über die »Götter Griechenlands« verfasst: »Ausgestorben trauert das Gefilde, Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick, Ach, von jenem lebenswarmen Bilde Blieb nur das Gerippe mir zurück«. Gemeint war damit aber nicht die ausgestorbene Kunstszene, sondern die rabiate Vertreibung der heidnischen Götter des Polytheismus durch den einen und einzigen Gott des Christentums. Schiller erntete Kritik und lieferte noch im letzten Lebensjahr eine weniger unchristliche Fassung: Die Pflege des entleerten Himmels war nun Sache der Poesie. Trauerarbeit leistete zur selben Zeit auch Wilhelm von Humboldt, damals Botschafter in der ruinenübersäten Hauptstadt Italiens. 1804 schrieb er an Goethe einen verdeckten Kommentar auf Lord Elgins Aktion: »Aber es ist auch nur eine Täuschung, wenn wir selbst Bewohner Athens oder Roms zu sein wünschten. Nur aus der Ferne, nur von allem Gemeinen getrennt, nur als vergangen muß das Altertum uns erscheinen. Es geht damit wie wenigstens mir und einem Freunde mit den Ruinen: wir haben immer einen Ärger, wenn man eine halb versunkene ausgräbt; es kann höchstens ein Gewinn für die Gelehrsamkeit auf Kosten der Phantasie sein.«

      Goethe hatte die Botschaft verstanden; nach Schillers Tod kam er zurück in die deutsche Gegenwart. Fast vierzig Jahre trennten ihn nun von Winckelmann, dem bewunderten, ja geliebten Kunstlehrer von einst, und es waren dramatische, hochpolitische Jahre gewesen. Hinter ihm lag die Französische Revolution, die er hasste, und der Aufstieg Napoleons, den er bewunderte. Im Jahr seiner denkwürdigen Begegnung mit dem französischen Kaiser erschien endlich das deutscheste Werk der deutschen Literatur, »Faust I«, im Druck: es war dieser Faust, seit 1775 als »Urfaust« bekannt, dann weitergeführt als »Faust. Ein Fragment« und als solches 1790 erstmals veröffentlicht. Nun also 1808 »Faust I« zum Abschluss der Werkausgabe beim Verleger Cotta gedruckt: keine Iphigenie mehr und kein Prometheus, sondern sehr zeitgenössisch eine Figur, die Goethe angeblich aus einem Mainzer Puppenspiel kannte, das ihn als Kind so begeistert hatte; nun also ein Mann als Heiratsschwindler und Mörder, ohne weiteren philhellenischen Glanz, dazu ein satanisches Abkommen und die Tragödie einer jungen Frau, verführt, zum Wahnsinn getrieben und schließlich als Kindsmörderin hingerichtet, wenn auch von einem christlichen Gott erlöst.

      Lord Byron kannte und verfolgte Goethes Ruhm, konnte aber kein Deutsch und also erst einmal nichts original lesen. Er ließ sich berichten und spiegelte schließlich die Faustgeschichte auf seine Art in dem Versepos »Manfred. A Dramatic Poem« von 1817. Goethe war begeistert. Zwar hatte er schon vorher Gedichte von Byron gelesen, auch ansatzweise übersetzt; aber nun verfolgte er nahezu unaufhörlich das Werk des Jüngeren und notierte monatlich im Tagebuch seine Lektüren bis ins Todesjahr. »Manfred«, ein schuldbeladener, schwermütiger Wanderer in den Schweizer Alpen, der nach Vergessen sucht, zaubert wie Faust Geister heran, aber es sind Naturgeister, die sich nicht materialisieren wollen, allenfalls alle zusammen in einer herrlichen Frau. Sie erscheint, Manfred will sie umarmen, doch sie entschwindet. Das Leiden beginnt. Das Muster einer immer wieder seltsam misslingenden Liebe zu einem blendenden Phantom,