„Der Vater kommt jetzt bald nach Hause und will mit uns reden.“
Fast wäre die Freude über Maries neues Fahrrad verflogen, denn alle spüren, dass es etwas Ernstes sein muss, was der Vater zu besprechen hat. Marie wagt noch eine Frage:
„Mama, ist etwas mit August?“
Die Mama schüttelt den Kopf und wischt sich ein paar Tränen aus den Augen.
Inzwischen sind die großen Schwestern und der Vater von der Arbeit heimgekommen. Ein betretenes Schweigen macht sich um den Küchentisch breit. Nach dem gemeinsamen Tischgebet und dem einfachen Abendessen räuspert sich der Vater und sagt:
„Ihr wisst, dass der Steinbruch bereits seit zwei Jahren offiziell geschlossen ist und ich trotzdem bis jetzt weiter dort arbeiten konnte. Doch nun ist es damit vorbei. Durch den langen Krieg gibt es praktisch keine Aufträge mehr und die Firma wird nun ganz geschlossen. Die Mitarbeiter werden alle abgebaut.“ Der Vater kämpft mit den Tränen, als er sagt:
„Wir müssen bis Anfang April unser Haus aufgeben und wir werden nach Heinsberg ziehen.“
„Aber warum müssen wir so weit wegziehen?“, rufen alle durcheinander.
Die Mama mischt sich ins Gespräch ein und sagt:
„Ihr wisst ja, dass ich von Heinsberg stamme. Wir haben dort auch schon ein paar Mal Verwandte besucht. In Heinsberg finden wir leichter eine Unterkunft und der Vater eine Arbeit.“
„Dann sehen wir uns nur noch an meinen freien Tagen“, wirft Elisabeth, die in Bamenohl arbeitet, ein.
„Und ich habe mir ein so schönes Fahrrad gekauft. Ich wollte damit jeden Morgen nach Finnentrop und am Abend wieder heimfahren“, sagt Marie traurig.
„Wir haben keine andere Wahl“, erwidert der Vater. „Ich habe mich bereits erkundigt und bekomme sehr wahrscheinlich bei der Bahn eine Arbeit. Eine Wohnung habe ich ebenfalls in Aussicht.“
Ein geschäftiger Monat beginnt. Durch die viele Arbeit, die das Auflösen des Haushaltes mit sich bringt, bleibt wenig Zeit für Traurigkeit. Marie kommt jeden Abend etwas früher mit dem Fahrrad heim und hilft beim Zusammenpacken. Schnell ist der 3. April 1918 da. Die Familie verabschiedet sich bei all den lieben Menschen, mit denen sie so viele Jahre im Dorf zusammenlebten. Bei den großen Töchtern fließen besonders viele Tränen, denn sie müssen sich von Freunden trennen, bei denen das eigene Herz auch ab und zu höherschlägt. Heinsberg ist für zärtliche Annäherungen zu weit entfernt.
Am Abend des nächsten Tags steht die Familie vor ihrer neuen Unterkunft. Es ist ein altes, strohbedecktes Bauernhaus ganz unten am Bach. Sozialer Aufstieg ist es keiner, denn im Haus wohnen noch zwei weitere Familien. Nach dem anfänglichen Schrecken der bereits erwachsenen Kinder über diese einfachen Wohnverhältnisse hält der 13-jährige Franz gleich Ausschau, ob es bei den zwei Familien auch Buben gibt. Doch bald lebt sich die Familie ein. Hauptsache ist, dass der Vater bei der Bahn untergekommen ist.
Am Wochenende kommt Marie zum ersten Mal mit dem Zug nach Heinsberg. Obwohl es schon Mitte April ist, ist es am Bach kühl, feucht und schattig.
„Mama, du musst hier sehr gut mit deinem Rheuma und deinen Herzproblemen auf dich aufpassen. Heize dir immer den Herd in der Küche ein“, sind die ersten Worte von Marie, als sie ihre schmächtige Mama sieht.
„Es geht schon, Marie. Wir können auf der Anhöhe einen Acker für den Gemüseanbau verwenden. Dort ist es sehr sonnig. Es wird mir guttun.“
Marie erzählt, dass sie bei einem Werkmeister der Firma Bischoff/Brögger ein Zimmer gemietet hat:
„Mama, dort gibt es auch zwei Mädchen. Sie sind sehr nett zu mir. Auch ihre Mama ist freundlich. Ich fühle mich sehr wohl.“
Marie verschweigt, dass sie nun abends nach der Arbeit wieder länger Frau Brögger hilft, denn nach der Geburt ihres fünften Kindes ist sie sehr geschwächt. Theresia braucht ebenfalls noch den Beistand von Marie, da sie als Älteste in der emotionalen Zuwendung oft zu kurz kommt. Wenn Marie am Wochenende nicht nach Heinsberg fährt, gönnt sie sich am Sonntag ab und zu eine Radtour rund um Finnentrop. Nach dem Sonntagsgottesdienst kann sie so für die Arbeitswoche auftanken.
An einem wolkenlosen Sommersonntag hört sie plötzlich eine Stimme hinter sich:
„Marie? Du bist doch Marie aus unserer Klasse. Schau, ich habe mir ebenfalls ein Fahrrad gekauft.“
Der junge Mann ist inzwischen neben Marie angekommen und lacht:
„Ja, klar. Du bist die Marie, du hast ein ganz schönes Tempo darauf.“
Beide begrüßen einander und lachen, weil sie sich ihren Kinderwunsch erfüllt haben. Eine Weile fahren sie lachend und schwatzend nebeneinander her. Bei einer Kreuzung trennen sich ihre Wege.
„Sehen wir uns wieder, Marie?“
„Ja, vielleicht. Es war eine feine Radfahrt mit dir.“
Dann, im Spätherbst, gibt es nur noch ein Thema in der Firma, in der Marie ihre Lehre absolviert, und zwar, dass der Krieg bald zu Ende sei. Auch ist bis Finnentrop durchgedrungen, dass die Marinesoldaten auf verschiedenen Schiffen den Aufstand proben und nicht mehr die Befehle ihrer Oberen ausführen wollen. Marie bekommt Angst um ihren Bruder und betet noch mehr als sonst, dass die Gottesmutter ihn und alle beschützen möge, damit nicht viele noch unnötig sterben müssen.
Am 11. 11. 1918 beendet der Waffenstillstand von Compiègne den Ersten Weltkrieg. Mit 17 Millionen geschätzten Toten war es bis dahin der tödlichste Konflikt aller Zeiten. Annähernd 70 Millionen Menschen standen unter Waffen. Allein im kleinen Dorf Bamenohl sind 35 Männer gefallen und viele kehren als Verwundete zurück. Welche seelischen Schäden die Kriegserlebnisse angerichtet haben, lässt sich wohl nicht erfassen. Auch konnten die Heimkehrer die Schande, dass der Krieg verloren war, nur schwer überwinden. Von „großer Not“ und „drückender Sorge“ schrieben die Zeitungen. Was Frauen und Kinder der Heimgekehrten ertragen mussten, bis wieder ein einigermaßen gutes Zusammenleben möglich war, steht in keiner Chronik.
Als August knapp vor Weihnachten heimkehrt, erzählt er seinen Freunden stundenlang von seinen Eindrücken beim Kieler Matrosenaufstand. Daheim redet er nur spärlich davon, denn er will vor allem die Mama nicht beunruhigen.
Der Kieler Matrosenaufstand fand kurz vor dem Ende des Ersten Weltkrieges statt. Auslösender Moment waren Befehlsverweigerungen auf einzelnen Schiffen der vor Wilhelmshaven ankernden Hochseeflotte. Etliche Matrosen und ihre Offiziere sahen den am 24. Oktober erlassenen Flottenbefehl, zu einer Entscheidungsschlacht gegen die britische Marine auszulaufen, als militärisch sinnlos an. Dies mündete in einer Meuterei mehrerer Schlachtschiffbesatzungen. Das Dritte Geschwader der Flotte wurde daraufhin nach Kiel zurückbeordert. In Kiel trat die Arbeiterschaft an die Seite der Matrosen. Es kam zu einem allgemeinen Aufstand. Von Kiel aus wurde der Impuls zur Ausbreitung der Unruhen gegeben, die dann zur Novemberrevolution und somit zum Ende der Monarchie in Deutschland und in Folge zur Errichtung der Weimarer Republik führten.2
Irgendwann erzählt August seiner Schwester Marie, zu der er immer noch ein großes Vertrauen hat, dass er auch zu den Befehlsverweigerern gehört hat. Marie antwortet ihm in der ihr eigenen einfachen und klaren Sprache:
„August, das war doch gut so. Sonst wären noch viele tausend Seeleute gestorben und vielleicht auch du.“
August ist dankbar über diese Worte von Marie, denn Befehlsverweigerung ist bei vielen, die zum Gehorsam gegenüber Vorgesetzten erzogen wurden, ein Verbrechen.
Die Jahre des Wiederaufbaus sind sehr schwierig. Die Firma Bischoff/Brögger übersteht aber die Wirtschaftskrise und Marie trägt in dieser Zeit sehr zum Unterhalt ihrer Familie bei. So oft es ihr möglich ist, fährt sie an den Wochenenden nach Heinsberg, um der Mama und Gertrud zu helfen. Dadurch, dass sie die Mutter nicht jeden Tag sieht, fällt ihr viel stärker auf, dass diese immer schwächer wird. Irgendwann bemerkt sie auch Mamas geschwollene Beine und macht ihren Vater darauf aufmerksam. Endlich begibt sich Amalia in ärztliche Behandlung und