Friedrich Adler muss sich am 18. und 19. Mai 1917 im Wiener Landesgericht in einem Aufsehen erregenden Mordprozess verantworten, dessen stenografische Protokolle vorliegen. Warum er sich nicht einmal durch den Gedanken an seine Frau, seine Kinder und seine Eltern von der Tat abhalten ließ, wird Adler von Richter Ehrenreich gefragt. Im Krieg auf fremde Menschen zu schießen, antwortet der Angeklagte, sei um nichts weniger verwerflich als ein Mordanschlag auf den Ministerpräsidenten, den er als gefährlichen Kriegshetzer sah. Es könne nicht sein, dass geschichtliche Taten nur von kinderlosen Waisen durchgeführt werden dürfen.
Danach beginnt Friedrich Adler mit der Schilderung des Tathergangs: »Hinter dem Tisch des Grafen Stürgkh saß eine Dame. Es ist dort ein Durchgang zwischen Säule und Wand, durch den man durchschießen könnte, und ich habe mir gesagt, wenn ich danebenschieße, könnte ich die Dame treffen, und ich sagte mir, das kann ich nicht tun … Dann ging die Dame weg, um 2 oder 1/2 3 Uhr. Die Uhr des Hotels war gerade vor mir. Von dem Momente an sagte ich mir: Jetzt muss es geschehen. Doch es kamen immer wieder Kellner dazwischen, die den Grafen Stürgkh bedienten. Es bewegten sich immer mehr Leute durch den Saal … Dann kam ein Moment, wo kein Kellner da war und da gab es mir einen Ruck und ich bin vorgegangen. Es war eine Überraschung für mich, wie schnell die Automatik funktioniert hat, so dass die Schüsse gefallen sind.«
Die Einvernahme Adlers, der mit einem Browning-Revolver auf Stürgkh geschossen hat, dauert fast sechs Stunden. »In dem rückwärtigen Saale des Restaurants saßen einige hohe Offiziere«, fährt Friedrich Adler fort. »Sie haben mich dann am Kragen gewürgt und mir die Brille heruntergerissen, und über mir war ein Säbel. Da habe ich gerufen, ich bin Dr. Adler, ich stelle mich dem Gericht …« An anderer Stelle erklärt er, zu diesem Zeitpunkt bereits mit seinem Leben abgeschlossen zu haben.
Friedrich Adler ist vor dem Ausnahmegericht nicht bereit, die Strategie seines Vaters, er hätte in einem Anfall von Geistesverwirrung gehandelt, zu übernehmen. Er legte sogar Wert darauf, die volle Verantwortung für die Tat zu übernehmen, weil sie als Wahnsinnstat für ihn, für das Land und für die internationale Arbeiterbewegung »nutzlos gewesen wäre«.
Am 19. Mai 1917 spricht der Vizepräsident des Landesgerichts Wien, Hofrat von Heidt, das Urteil: »Im Namen Seiner Majestät des Kaisers. Friedrich Adler ist schuldig, gegen Dr. Karl Graf Stürgkh in der Absicht, ihn zu töten, durch Abgabe von drei Revolverschüssen auf solche Art gehandelt zu haben, dass daraus dessen Tod erfolgte. Dr. Friedrich Adler hat hiedurch das Verbrechen des Mordes begangen und wird nach § 136 zur Strafe des Todes verurteilt.«
Doch Friedrich Adler sollte seiner Hinrichtung entgehen, da kurz vor der Vollstreckung eine Amnestie für politische Gefangene eingeleitet wurde. Der Attentäter blieb in Haft, aber als Kaiser Karl in seinen Gesprächen mit dem sozialdemokratischen Parteiführer die letzte Chance zur Rettung der Monarchie sah, wollte er ein Zeichen setzen und begnadigte dessen Sohn. Nicht genug damit, dass Friedrich Adler am 1. November 1918 aus der Strafanstalt Stein entlassen wurde, stellte ihm der Kaiser für die Fahrt aus dem Gefängnis sogar seinen privaten Gräf & Stift-Wagen zur Verfügung.
Den Thron kann er auch dadurch nicht retten. Wenige Tage später werden Victor Adler und die österreichisch-ungarische Monarchie gleichzeitig zu Grabe getragen. Adler stirbt am 11. November 1918 und damit just an dem Tag, an dem der Kaiser »auf jeden Anteil der Staatsgeschäfte verzichtet«. 24 Stunden später wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen.
Friedrich Adler fand nach seiner Freilassung wieder in ein bürgerliches Leben zurück. Da er stets für den Frieden plädiert hatte, wurde er nach dem Krieg, der zehn Millionen Menschenleben gefordert hatte, fast wie ein Volksheld gefeiert. Der glühende Pazifist wurde Abgeordneter zum Nationalrat und Generalsekretär der Sozialistischen Internationale und emigrierte nach Hitlers Einmarsch in die USA, wo er die Exilorganisation der österreichischen Sozialisten leitete.
1946 übersiedelte er mit seiner Familie wieder nach Zürich. Und nach seinem Tod am 2. Jänner 1960 wurde er im Ehrengrab an der Seite seines Vaters am Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.
Einem anderen Grafen Stürgkh war von der Geschichte eine weitaus glücklichere Rolle zugewiesen worden als dem ermordeten Ministerpräsidenten: Georg Christoph Stürgkh hatte knapp zwei Jahrhunderte vor dem Attentat einen wesentlichen Beitrag zur Rettung des Habsburgerreichs geleistet. Er war es, der als Hofkanzler Kaiser Karls VI. mit seiner historischen Unterschrift die Pragmatische Sanktion gegenzeichnete, durch die Maria Theresia 1740 Regentin von Österreich werden konnte.
Seit den Tagen des Hofkanzlers Georg Christoph Stürgkh war das steirische Schloss Halbenrain Sitz der Familie Stürgkh. Das Anwesen stand zum Zeitpunkt der Ermordung Karl Stürgkhs im Oktober 1916 im Eigentum des Ministerpräsidenten und ging, da er keine direkten Nachkommen hatte, danach in die Hände seines jüngeren Bruders Heinrich Graf Stürgkh über.
In einen spektakulären Fall war auch ein angeheirateter Onkel des Ministerpräsidenten verwickelt: Karl Graf Spaur diente als königlich-bayerischer Gesandter im Vatikan, als die europaweite Revolution im Herbst 1848 auch den Kirchenstaat erreichte. Als Kardinalstaatssekretär Pellegrino Rossi am 15. November nach kaum zweimonatiger Amtszeit an der Treppe des römischen Parlaments von Rebellen erstochen wurde, bestand auch höchste Gefahr für das Leben des Papstes. Damit schlug die Stunde des Grafen Spaur, mit dessen Hilfe Pius IX. nun aus Rom flüchtete. »Mein Mann kam nach Hause und erzählte mir voller Entsetzen, wie die bewaffnete Masse den Quirinal* umringte, wie sie die Kanonen gegen das Haupttor richteten und den Papst seiner Schweizergarde beraubten«, schildert Therese Gräfin Spaur in dem Buch Papst Pius’ IX. Fahrt nach Gaeta. Vorerst begab sich Spaurs Komplize, der französische Botschafter de Harcourt, in den Palast, um mit großer Mühe – an den Aufständischen vorbei – zum Papst zu gelangen. Er steckte den Heiligen Vater in das Gewand eines einfachen Priesters, setzte ihm Brillen auf und lotste ihn durch einen geheimen, seit Jahrzehnten stillgelegten Gang zu einer Nebenpforte. Dort bestieg der verkleidete Papst einen Wagen, der ihn zum Grafen Spaur brachte. Dieser erwartete ihn »in höchster Angst und Aufregung und bis an die Zähne bewaffnet«.
Durch seinen diplomatischen Status konnte Spaur mit seinem prominenten Fahrgast unkontrolliert die bereits von den Aufständischen kontrollierte und zur Republik ernannte Stadt Rom verlassen. Der französische Botschafter war unterdessen allein im Quirinal geblieben und sprach auffallend laut weiter, sodass die Revolutionäre vor der Tür der päpstlichen Gemächer dachten, er wäre in ein Gespräch mit dem Pontifex vertieft. Nach zwei Stunden verließ der französische Botschafter den Palast und sagte den Wachen, der Heilige Vater hätte sich nun zur Ruhe begeben.
Der aber war zu dieser Stunde mit dem Grafen Spaur unterwegs nach Neapel, wo ihn König Ferdinand II. von Sizilien aufnahm und in Gaeta einquartierte. Knapp zwei Jahre später konnte Pius IX. nach Rom zurückkehren und sein Pontifikat fortsetzen. Graf Spaur aber wurde zum Retter des Papstes ernannt und von diesem mit höchsten Orden versehen.
Trotz der Ermordung des Ministerpräsidenten gingen zwei seiner Neffen in die Politik: Barthold Stürgkh, ein Sohn seines Bruders Heinrich, war in der Ersten Republik steirischer Landeshauptmannstellvertreter und in der Zweiten Republik Abgeordneter zum Nationalrat der Österreichischen Volkspartei. Geschichte schrieb auch Carl Georg Stürgkh – ein weiterer Neffe des Ministerpräsidenten – der nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten mit Otto von Habsburg in Paris eine österreichische Exilregierung gründete. Stürgkh wurde von der Gestapo festgenommen und im Juni 1942 »wegen Vorbereitung zum Hochverrat zum Tod durch das Fallbeil« verurteilt, später jedoch begnadigt.
Nach Barthold ging Schloss Halbenrain in den Besitz des Maximilian Stürgkh – dem früh verstorbenen Vater der Opernballorganisatorin – über. Auch sie ist dort aufgewachsen, musste das Anwesen jedoch nach dem Tod ihrer Eltern, »da unser Vater ein finanzielles Chaos hinterließ«, gemeinsam mit ihren Geschwistern verlassen. »Das Attentat auf den Ministerpräsidenten«, erinnert sie sich heute, »war für uns Kinder nur eine Episode, die wir nicht sehr ernst nahmen. Immer wenn wir am Neuen Markt vorübergingen, haben wir den Witz gemacht, dass der gute Onkel Karl wenigstens erst nach dem Mittagessen ermordet wurde.«