In meiner vierzigjährigen Ehe mit einem Journalisten und PRBerater habe ich immer wieder erlebt, wie anders Angehörige seiner Berufswelt – Verlegerschaft inklusive – denken als meine Kollegenschaft. »A G’schicht«, dozierte er oft, ist nur etwas, das das erste oder letzte Mal geschieht, oder ein Wunder oder ein Skandal. Und Skandale kann man herbeischreiben ... Vor welcher Zielgruppe sich hüten – und welcher sich beim Verfassen eines Mut-Buches anschließen? Meiner psychotherapeutischen Kollegenschaft, der Zuhörerschaft meiner Vorträge und Seminare, den Erwartungen potenziell übelwollender Rezensenten oder meiner Verlegerin und meinen LeserInnen? Da ich mich aber nicht nur für mutig halte, sondern auch für grundsätzlich kooperativ, entscheide ich mich für Letztere und bereite mich darauf vor, dass andere von mir den Mut zum Widersprechen einfordern werden, den sie selbst nicht aufbringen.
Aber wie der Vorarlberger Rundfunkjournalist Dr. Franz Köb als Moderator einer Podiumsdiskussion bei den Goldegger Dialogen aufzeigte: Jeder Mensch ist eine gefährliche Gelegenheit – und eine gelegentliche Gefahr … Ich wage also den Weg in die soziale Gefahrenzone.
Mut wird meist als Tapferkeit vor dem Feinde – wer auch immer das sei – verstanden. Bedenkt man aber, in wie vielen Wortkombinationen Mut steckt, merkt man, dass er eigentlich nur eine der vielen Formen von Gemüt darstellt. Auch wird Mut meist positiv bewertet – aber auch das ist nur die eine, die lichte Seite – es gibt auch eine dunkle.
Zu Beginn sollen dazu einige Fragen aufgeworfen und beantwortet werden wie etwa die, was genau unter dem Wort Mut verstanden wird, wer als mutig gilt und in welchen Situationen – und ob es da einen Unterschied zwischen Männern und Frauen gibt. Später folgen dann ausführliche Überlegungen, wie sich Mut aber auch Mutlosigkeit im Laufe der Lebensphasen entwickeln können – und wie man Gemüt und Mut selbstbestimmt fördern kann.
Deswegen soll aufgezeigt werden, dass man Mut – oder ebenso Mutlosigkeit – »lernt« und auch, wie jegliches Lernen konkret vor sich geht.
Lernaufgaben
Der Mensch muss schon früh versuchen, das zu wollen, was möglich ist, damit er auf das, was nicht sein kann (als nicht erstrebenswert), verzichtet und in dem Glauben leben kann, dass er das will, was vom Gesetz und der Notwendigkeit her unvermeidlich ist.
ERIK H. ERIKSON
Es war einmal … eine Plakataktion der Firma Palmers unter dem Schlagwort »Trau dich doch!«. Da ging es darum, der österreichischen Biederfrau Lust auf sogenannte Reizwäsche zu machen – und Mut. Denn damals galt es noch als unmoralisch, andere Materialien als Baumwolle an den durchwegs »vollschlanken« Frauenkörper zu lassen, und auch die industriell gefertigten Spitzen durften höchstens eine Breite aufweisen, wie sie Mädchen im Handarbeitsunterricht zwecks Verschönerung an quadratische Leinenflecke platzieren mussten (und die für den geplanten Einsatz als Taschentücher eigentlich viel zu derb waren). Apropos »Reiz«Wäsche: Wen sollte diese »reizen«? Mollige Wienerinnen oder Hiatamadeln mit »strammen Wadeln« (© Hubert von Goisern), die sich mit überschlanken Models in halbseidenen Posen identifizieren und dazu die passende Umrahmung kaufen sollten? Oder müde Alpinhengste oder Mundl Sackbauers daran erinnern, dass nicht nur Bier den Unterleib aktiviert? Oder ging es einfach nur um das »Sich-trauen«, den Mut, tief schlummernde Sehnsüchte ins Bewusstsein aufsteigen zu lassen, anstatt sie sofort als ungehörig bei sich selbst zu unterdrücken oder bei anderen zu bekämpfen?
Sich »trauen« hat viel mit Vertrauen, Zutrauen und Zutraulichkeit zu tun: Wenn man sich etwas traut, traut man sich die Bewältigung dieses Vorhabens zu – oder man traut sich den Widerstand gegen die jeweilige Auftraggeberschaft nicht zu; dann hat man zu dieser kein Vertrauen, und das macht meist auch Sinn – denn viele setzen listig unerwünschte Vertraulichkeit ein, um Bedenken oder Zweifel zu zerstreuen … Und oft erproben sie mit über-raschenden Vertraulichkeiten, ob sich das Gegenüber traut, sich zur Wehr zu setzen. Das potenzielle Opfer soll gar nicht zum Nachdenken kommen … Mut wird deshalb oft als Abwesenheit von Vernunft bezeichnet.
In der Zeit, in der ich noch Kommunalpolitikerin war (1973–1987), sagte mir einmal ein übergeordneter Kollege »im Vertrauen«, ich wäre vielen Funktionären zu »risikofreudig«, was er dann präzisierte als »ich würde zu oft meine Gedanken offenbaren« und damit die Konservativen – oder wohlwollender formuliert: Vorsichtigen – vor den Kopf stoßen. (Viele dieser meiner »zu progressiven« Gedanken2 wurden Jahre später dennoch verwirklicht – allerdings immer auf den medial verstärkten Druck der Oppositionsparteien hin.)
Wie sinnvoll es ist, Mut nicht als spontanes Draufgängertum hoch zu schätzen, wurde mir erst Jahre später bewusst. Es war Hochsommer, den meine Familie und ich in unserer kleinen Hütte in der Steiermark verbrachten; wir mussten damals über einen Tag kurz mal nach Wien, und als wir abends unser Häuschen erreichten, fiel mir sofort auf, dass ein Fenster offenstand. Dass unser Hund sich zitternd nicht aus dem Auto wagte, fiel mir nicht auf – denn nach der Frage an Mann und Kinder, ob jemand das Fenster schlecht zugemacht oder offenstehen gelassen habe, war ich schon flugs aus dem Auto heraus und über das offene Fenster ins Haus hineingeklettert – es dauerte mir zu lange, drei Schlösser aufzusperren. Den Platsch, den der Einbrecher machte, als er bei einem anderen Fenster hinaus und in den dort von uns für die Kleinen angelegten Spielteich hineinsprang, hörte ich nicht – nur die heftige Kritik meines Ehemannes, dass ich mich unnötig gefährdet hätte: Im Haus befand sich auch ein Gewehr. In den Tagen darauf erfuhren wir, dass der bereits von der Polizei gesuchte Mann in mehrere Hütten eingebrochen war und sich mit Lebensmitteln versorgt hatte – bei uns war der vollgepackte Rucksack am Küchentisch stehen geblieben – und dass er ein ehemaliger Fremdenlegionär und als gefährlich einzustufen war.
An all das hatte ich nicht gedacht. Ich hatte wohl irgendeinem filmischen Vorbild nachgeeifert – und in Filmen laufen die Bilder so schnell ab, dass man während des Zuschauens kaum zum Nachdenken kommt, sondern höchstens zum Mitfühlen – und zwar mit der Person, mit der man sich identifiziert, und das ist meistens die, aus deren Blickwinkel die Kamera geführt wird. Damit »erlernt« man aber auch unbewusst ein Verhaltensrepertoire.
Gleichschaltungen
In dieselbe Richtung zu schauen, bedeutet, sich mental gleichzuschalten, sofern man sich nicht bewusst kritisch distanziert.
Gleichschaltung ist eine Methode, ein Korps zu gestalten – eine Masse, in der der Einzelne untergeht und damit auch seine individuelle Verantwortlichkeit. Der Filmemacher Peter Hartl etwa verweist auf die Formationen zum Gleichschritt als ersten Schritt zur Verherrlichung soldatischer Tugenden. Außerdem schafft der produzierte Gleichklang einen besonderen Ton von Kraft. All das scheint logisch: Wenn man will, dass niemand aus der Reihe tanzt, dass sich alle im Kollektiv geborgen fühlen, dass niemand über seine Gefühle nachdenkt und womöglich andere mit seiner Angst ansteckt, dann wird man krass unterscheiden zwischen dem belobigungswürdigen Mutigen und dem verdammenswerten Feigen. Der französische Maler und Schriftsteller Roland Topor verteidigt Feigheit allerdings als »Technik des individuellen Überlebens«. Aber sind nicht alle unsere Handlungen mehr oder weniger am Überleben ausgerichtet – vor allem am sozialen Überleben?
Mut wird oft als Abwesenheit von Vernunft bezeichnet.
Sozial überlebt, wer nicht aus der Peergroup herausfällt bzw. hinausgedrängt wird. Alltägliche Mut-Tests dienen insgeheim dazu, nicht nur die Rangordnung zu prüfen – bei Hühnern wird sie »Hackordnung« genannt, weil die »nicht Gleichen« mit scharfen Schnäbeln gepeckt, vertrieben oder andernfalls verletzt oder gar