Ob Gewerkschaftsboss, Bauernpräsident oder Private-Equity-Manager, sie spielen verschiedene Instrumente, aber nach denselben Noten. Sie setzen ihre Interessen auf Kosten der apathischen Masse durch, behaupten dabei mit großer Selbstverständlichkeit, nur das Gemeinwohl im Auge zu haben, und lähmen so die Gesellschaft. Sie verhindern Konkurrenz und gleichen Zugang zu Märkten und Institutionen, leiten die Geldströme so gut es eben geht in die eigenen Taschen und sorgen für immer kompliziertere Regulierungen mit immer mehr Ausnahmen, Sonderfällen und Vergünstigungen, bis ein Gewebe entstanden ist, in dem sich nur noch die Gewitzten zurecht finden. Aus den Gewitzten von heute werden die Privilegierten von morgen, die dann, wie Voltaire beklagt, indem sie sind, was sie sind, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt lahmlegen.
Je schwächer die Institutionen, desto barocker die Zustände, könnte man bei oberflächlicher Betrachtung der Eurozone meinen. Wo der Zentralstaat schwach ist, haben allerlei Interessengruppen die Möglichkeit, sich mit unverdienten Rechten zu versorgen oder, direkter, sich gleich an den öffentlichen Kassen zu bedienen. Der Staat wird dort nicht als gemeinschaftliches Projekt, als Agent der Interessen seiner Bürger, sondern als Mittel zur Ausbeutung begriffen. Ein Staatsbankrott hat daher in Lateineuropa für die eher staatsfern gesinnte Bürger, die aus langer Erfahrung wissen, wie sie für sich zu sorgen haben, lange nicht den Schrecken wie etwa für die Deutschen, die ohne ihren Staat oft nichts mit sich anzufangen wissen.
Die moderne Privilegienwirtschaft ist jedenfalls auch ein kulturelles Phänomen und keineswegs nur von den Institutionen abhängig. Ländern wie Griechenland ist nicht damit geholfen, die Gesetze und den Staatsaufbau Dänemarks zu übernehmen, dadurch würde dort nichts geändert. Der griechische Staat, der ein beliebtes Beispiel für den europäischen Niedergang ist, hat bei weitem nicht die Gewalt über seine Bürger, wie es die auf einer staatstragenden Tradition gegründeten Bürokratien des Nordens haben. Es herrscht dort Barock ohne Absolutismus. Das gibt bestimmten Gruppen die Möglichkeit, sich Pfründe zu verschaffen, sobald sie an der Macht sind. Wenn also die Sozialisten die Regierung stellen, versorgen sie ihre Parteigänger mit Jobs, etwa bei der Staatsbahn, so wie es zuvor die Bürgerlichen mit ihren Freunden getan haben. So geht es bei staatlichen Unternehmungen oder Bürokratien nicht so sehr um die Erreichung eines äußeren Ziels, sondern vielmehr um die Versorgung der Insider auf Kosten aller anderen.
Im Ergebnis standen 2009 bei der griechischen Staatsbahn einem jährlichen Umsatz von € 174 Millionen Personalkosten in Höhe von € 290 Millionen gegenüber sowie allein € 422 Millionen an Zinszahlungen auf den Schuldenberg von knapp acht Milliarden Euro. Ein durchschnittlicher Bahnangestellter verdiente € 65.000 im Jahr, vom Schrankenwärter bis zum Lokomotivführer. Oder: In Griechenland konnten Männer mit 55 in Rente gehen und Frauen mit 50, wenn sie einen »mühevollen« Beruf hatten. Als »mühevoll« waren etwa 600 Berufe klassifiziert, wie Friseur, Radioansager, Kellner oder Musiker. Oder: Erst seit 2010 wurde ein unabhängiges nationales Statistikamt aufgebaut. Bis dahin kamen die Zahlen zur Verschuldung, zur Wirtschaftsleistung etc. von einer Unterabteilung im Finanzministerium und da wunderte es nicht, wenn sie vor und nach jeder Wahl gründlich frisiert wurden. Oder: Nur ein Drittel aller Ärzte in Griechenland zahlte überhaupt Steuern, der Rest verdiente, glaubte man ihren Steuererklärungen, weniger als das steuerfreie Existenzminimum von € 12.000 im Jahr. Das waren nicht mal 20 % des Lohns eines durchschnittlichen Eisenbahners. Griechenland war zu dieser Zeit das Land mit der höchsten Quote von Selbständigen in Europa, was nicht verwundert, wurden doch Unternehmer praktisch nicht besteuert – so hoch die Steuersätze auf dem Papier auch gewesen sein mögen. Und wenn einer doch mal zum Steuern zahlen herangezogen wurde, konnte er immer noch vor Gericht gehen, wo die Fälle bis zu 15 Jahre lang anhängig blieben. So lange bis irgendjemand, die Richter oder das Finanzamt, keine Lust mehr hatten. Oder: Die damalige französische Finanzministerin Lagarde vertraute 2010 ihrem griechischen Kollegen eine Liste mit den Namen von fast 2.000 griechischen Kunden bei der HSBC in Genf an. Von diesen sollte man ausstehende Steuern eintreiben, so die Hoffnung der Geldgeber Griechenlands aus der EU, und mit den Einnahmen die Finanzen des Landes sanieren. Frau Lagarde war wohl so diskret, die Liste nicht durchzugehen, denn sonst hätte es sie nicht wundern müssen, dass sie sofort verloren ging. Auf der Liste stand natürlich die Klientel der politischen Klasse, und die Sache verlief im Sand. In einem Land, in dem jeder irgendwie privilegiert ist und zu irgendeiner Klientel gehört, hat niemand Interesse an Veränderung und genießt vielmehr das Leben, so lange es gut geht. Der Staat wird von den Insidern als Mittel zur Bereicherung gesehen und von allen anderen als Dieb.
So wie in Griechenland verhält es sich in großen Teilen der Welt, nur weniger pittoresk und stiller. Die Aufklärung hat es nicht leicht, sie kann auch über viele Generationen erfolglos anrennen gegen das Heilige und Althergebrachte und ihr Versprechen von Wohlstand durch Verdienst und Effizienz kann so ungehört verhallen wie die Ankündigung des kommenden Messias durch den Rufer in der Wüste.
Das kulturelle Erstaunen, das Europa in seiner großen Krise erfasst, ist nicht neu, es ist ein Widerhall dessen, was Italien seit seiner Gründung vor 150 Jahren erlebt. Die französisch und österreichisch geprägten Norditaliener kannten mächtige Stadtstaaten mit durchsetzungsstarken Regierungen, waren von einer durchgehenden Rechtstradition geprägt, hatten (spätestens seit der Besetzung durch Napoleon) die Aufklärung mitgemacht und sich industrialisiert und verfielen irgendwie, man weiß nicht mehr warum, auf die Idee, dass die Italiener südlich Roms nicht grundsätzlich anders tickten als sie selbst. So lag die Idee nahe, das französische Staatsverständnis von Piemont aus über das ganze Land zu verbreiten und die Brüder in Kampanien, Sizilien, Kalabrien und Apulien aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Wie naiv das war, wie wenig sich durch das Pathos der Befreiung, der Vernunft, der Effizienz ändert, ist das Thema von Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman Der Leopard. Dort sieht sich der Fürst, Symbol der Geschichte Siziliens, der aber gleichzeitig ein Mann der Wissenschaft und durch oberflächliche Anmutungen hindurchzuschauen gewohnt ist, mit der Machtübernahme des Nordens konfrontiert, der die Reform seines mittelalterlich gebliebenen Landes verspricht. Russo, der Vertreter der neuen Zeit, versichert dem Fürsten, »Glauben Sie mir, Exzellenz, alles wird besser werden. Die Männer, die ehrenhaft und geschickt sind, werden vorankommen. Das Übrige wird sein wie zuvor.« Der Fürst interpretiert das für den Süden: »Diese Leute, diese elenden kleinen Liberalen vom Lande, wollen nichts als die Möglichkeit, leichter zu profitieren. Schluss, Punkt.« Er, und mit ihm auch viele einfache Leute, sehen in der italienischen Einigung unter der Vorherrschaft Piemonts nur den Austausch der herrschenden Klasse, der alten Aristokratie, durch die Händler und Wucherer. Am Ende sieht der Sizilianer die Piemonteser nicht mit anderen Augen als zuvor schon die Griechen, die Römer, die Araber, die Normannen, das Haus Anjou, die Aragonesen, die Habsburger und die Bourbonen, die alle mit irgendwelchen neuen Ideen gekommen und nie geblieben waren. Die Kaufleute des Nordens, die nun eine neue Welt und Wohlstand versprechen, sind nicht besser und die Sizilianer werden ihre Lebensweise für sie nicht ändern. Die alte Ordnung wird bleiben, wie ein Harz alles verklebend, was von außen Einfluss auf den alten Stamm nehmen zu können meint. In dieser Welt kann die Aufklärung nur ganz anders ankommen, als sie einst gedacht war, denn sie findet keine Kultur vor, die ihr ein Mutterboden sein könnte.
Warum fällt es den Menschen so schwer, etwas zu ändern, auch wenn sie genau wissen, dass sie auf ihrem gegenwärtigen Kurs wirtschaftlich scheitern und moralisch nichts gewinnen werden? Anton Tschechow beschreibt in seinem Kirschgarten die Lähmung einer privilegierten Gesellschaft, die sich nicht ändern und nicht verzichten kann. Eine ehemals wohlhabende russische Adelsfamilie wird in dem Stück mit dem Ende ihrer finanziellen Ressourcen konfrontiert. Sie hat sehr lange sehr gut gelebt und sich nie Gedanken darüber gemacht, wo das Geld eigentlich herkommt. Ihr Lebensstandard war nicht etwa unelegant an die verfügbaren Ressourcen angepasst, das wäre ihnen vorgekommen wie ein zu lange getragener Konfirmationsanzug. Vielmehr erwarteten