Scheußlich, daß der Baum schon fast keine Blätter mehr hatte! Da konnte man ihn vom Zimmer aus sehen.
Er hatte den nächsten Ast erklommen, spannte Hände und Füße wie ein Affe um den Stamm und zog sich weiter hoch. Jetzt konnte er über die nur halbhohen Gardinen einen Blick in das Zimmer Cornfelders werfen.
Der kleine William C. Ovarim glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Ein halblauter Ausruf der Überraschung entfuhr ihm. Dann glitt er lautlos und blitzschnell vom Baum herunter, stand einen Augenblick wie betäubt da und lief dann unter einer Wagenklappe hindurch auf die Straße hinaus.
Zitternd stand er da, preßte die rechte Faust zwischen die Zähne und überlegte: Ich muß zum Sheriff! Ja, zum Sheriff!
Er rannte über die Straße auf das Office zu, blieb dann aber stehen und dachte wieder nach. Nein, ich kann nicht zu Mr. Marlove gehen. Er lacht mich nur aus.
Wie beim letztenmal, als ich ihm sagte, daß hinten in der Kornmühle zwei Männer Mehl aufgeladen hätten. Männer, die nicht zur Mühe gehörten! Bill hatte es genau gesehen, aber der Sheriff hatte ihm nicht geglaubt.
Dann war er eines Nachmittags noch einmal gekommen, weil er beobachtet hatte, daß ein glattrasierter Mann im Bankhaus gewesen war, der tags darauf mit einem starken Schnurrbart wieder in der Bank erschien war. Bill war der Ansicht, daß man einen Schnurrbart tragen und am nächsten Tag glattrasiert erscheinen könnte, aber umgekehrt, nein, das hielt er für ausgeschlossen. Wieder hatte der Sheriff nichts darauf gegeben.
Was soll ich denn tun? fragte sich Bill.
In diesem Augenblick machte er die zweite seltsame Feststellung an diesem Morgen. Er hatte die Straßenmitte verlassen und stand jetzt etwas seitlich hinter einem kleinen zweispriegeligen Planwagen, dessen hintere Plane vom Morgenwind etwas aufgeweht worden war.
Bill sah einen Mann an der inneren Bordwand des Wagens kauern und durch ein Loch in der Plane hinausblicken. Merkwürdig daran war, daß der Mann nicht etwa nur einen Augenblick hinaussah, sondern unverwandt. Er beobachtete die gegenüberliegende Straßenseite.
Auch Bill blickte jetzt auf die gegenüberliegende Straßenseite.
Drüben lag das Sheriffs Office!
Im Hirn des kleinen Mestizen klingelte es Alarm. Der Mann steht Schmiere!
Averhof und Cadd hockten an ihrem Fenstertisch und beobachteten nach wie vor die Straße.
Averhof blickte die Mainstreet nach Osten hinauf, und Cadd beobachtete ihre Westseite.
Da sah Cadd den Jungen; er hatte bemerkt, daß der Boy aus der Wagenklappe des Bankhofes kam und hastig die Straße überqueren wollte, dann stehenblieb und endlich hinter den Wagen trat.
Die Augen des Desperados wurden schmal. »He, was soll das denn?«
Averhof blickte den Kumpanen an. »Was gibt’s?«
»Der Bursche da drüben.«
Averhof wandte den Kopf. »Was ist mit ihm?«
»Er kam aus dem Bankhof.«
»Aus dem Bankhof? Das träumst du, die Tür ist doch zu.«
»Ja. Jetzt ist sie zu. Der Kleine hat sie zugeworfen.«
»Was geht uns das an? Was haben wir mit dem Kind zu tun?«
»Mit dem Kind? Sieh dir an, wo der Bursche steht.«
»Neben dem Wagen.«
»Und? Fällt dir nichts dabei auf? Es ist doch unser Wagen.«
Da stieß Averhof, der etwas schwer im Denken war, einen leisen Pfiff durch eine Zahnlücke.
»He, das gefällt mir allerdings auch nicht.«
»Ich werde hinausgehen und mir den Burschen kaufen.«
»Nein, das ist zu auffällig!« Immerhin war Averhof klug genug zu dieser Einsicht.
»Aber wenn der Bursche nun etwas gemerkt hat?«
»Warte, ich gehe hinüber zu Gibson«, entschied sich Averhof. Er zog sich sein Halstuch enger zurecht und stand auf.
Der Salooner, der schläfrig auf der Theke gelehnt und in eine vergilbte Gazette gestarrt hatte, hob träge den Kopf.
»Sie gehen schon?«
Die Teilnahme des Wirtes galt nur der noch nicht gezahlten Zeche.
»Ich komme gleich zurück.«
»All right.«
Gibson saß immer noch an einem Fensterplatz und blickte scheinbar auf seine Hände, aber das schien eben nur so; unter halbgesenkten Lidern beobachtete der Verbrecher die Straße.
Rob Gibson war ein besonders gefährlicher Bursche. Nicht umsonst hatte ihn der Große Boß zum Chief bei diesem Coup bestimmt.
Averhof betrat den Schankraum und wandte sich sofort zur Seite.
Gibson blickte nicht auf.
»Was willst du?« stieß er lautlos durch die kaum geöffneten Lippen.
Averhoff sah sich unbehaglich um. Er hatte nicht gern mit diesem Texaner zu tun. Wie überhaupt niemand gern mit dem Kalkgesicht, wie Gibson genannt wurde, zu schaffen hatte. Eine unglaubliche Kälte strahlte dieser kontaktarme Mann aus.
Sie waren alle Unterführer, die elf Desperados, die hier den Coup durchführten. Aber ein wirklicher Führer war nur Gibson. Der war auch für den morgen geplanten Coup vom Boß bestimmt worden. Und die großen Führer kannte man nicht vom Ansehen. Hier aber kannte man sich; die kleinen Unterführer, die für diesen Schlag ausgesucht worden waren, konnten sich ruhig kennen, da sie im Grunde nur unbedeutende Figuren waren – bis auf Gibson und Capite. Der Stern, oder besser gesagt, der Unstern des großen Desperados Frederic Capite war an diesem Tag allerdings noch nicht aufgegangen. So gehörte auch er noch nicht zu den großen Bossen.
Gibson aber ärgerte sich, daß er diesen Job aufgezwungen bekommen hatte. Bis heute hatte niemand gewußt, daß er zu den Graugesichtern gehörte. Nun aber kannten zehn Männer sein Gesicht. Gibson, der zu der ganz internen Crew der Großen Graugesichter gehörte, war über die Erniedrigung, die ihm der Boß da beigebracht hatte, zutiefst gekränkt und schwor insgeheim Rache.
Der Schießer hatte in Erfahrung gebracht, daß ein ähnlicher Fall bereits einmal vorgekommen war, und dann hatte der Boß den Anführer dieser Gruppe völlig fallenlassen, der Mann, ein gewisser Larrington, war eines Tages tot vor seiner Stadt aufgefunden worden. Also schien der Big Boß mit ihm ein ähnliches Spiel vorzuhaben. Denn daß der ihn nur wegen seiner bedeutenden Fähigkeiten und seiner großen Gewissenheit für diesen Job ausgewählt hatte, konnte sich Gibson nicht denken. Wie dem auch sei, die Tatsache, daß der Chief ihn hier ohne Maske hinbefohlen hatte, war für ihn ein klarer Beweis dafür, daß er oben schon abgeschrieben war.
Aber sie sollten sich in ihm geirrt haben. Rob Gibson war kein gewöhnlicher Bursche. Er würde es ihnen zeigen. Er hatte mehrere Richter, Sheriffs und sogar einen Staatenreiter jahrelang an der Nase herumgeführt. Er würde auch mit dem Big Boß der Galgenmänner fertig werden. Wenn er auch im Augenblick noch nicht wußte, wer der Boß war.
Allerdings hatte Gibson es nicht gewagt, sich dem Befehl zu widersetzen. Das hatten zwei Männer aus dem Großen Ring vom Roten See einmal gewagt – sie waren beide keine vierundzwanzig Stunden älter geworden. Ihre Leichen fand man tags darauf in ihren Höfen neben hohen Galgen liegen.
So gerissen der kalkgesichtige Revolverschwinger Robert Gibson auch war – er war nicht der Mann, es mit dem großen Boß der Kapuzenmänner aufzunehmen!
Über das Auftauchen Averhofs war er mehr als ungehalten. »Los, was willst du, Mensch«, zischte er ärgerlich.
»Ich muß Ihnen etwas melden, Boß.«
»Was