Mit roten Wangen, energischer Miene und aufrecht wie ein Fels in der Brandung waltete sie hinter der Rezeption, bat die Patienten, nicht auf dem Gang zum Sprechzimmer herumzustehen, und unterschied mit sicherem Instinkt zwischen denen, die nur aus Neugier kamen, um ein Schwätzchen zu halten, und denen, die tatsächlich krank waren. Ersteren gab sie einen Termin und schickte sie wieder fort.
Dr. Matthias Brunner blühte auf. Ihm war zumute, als wäre ihm ein zweites Leben geschenkt worden. Wie sehr hatten ihm all die Menschen, die ihm vertrauten, gefehlt! Wie sehr hatte ihm gefehlt, die Stunden des Tages sinnvoll zu füllen. Obwohl sich die Patienten die Klinke in die Hand gaben, verspürte er bis Mittag keinerlei Überforderung. Sein Herz schlug kräftig und regelmäßig. Wie das eines gesunden jungen Mannes.
Als er auf die Wanduhr sah, deren beide Zeiger auf Zwölf standen, lehnte er sich zufrieden zurück.
Ende der Sprechstunde. Am Nachmittag würde er mit Ulrike und Lump eine lange Wanderung machen. So hatte er es seiner Frau versprochen. Versonnen lächelte er vor sich hin und stand auf.
Nur einen Atemzug später vernahm er ein Klopfen an der Tür. Schwester Gertrud steckte ihren grauen Schopf ins Sprechzimmer. Gleichermaßen unsicher wie besorgt sah sie ihn an.
»Thomas Seeger ist gerade noch gekommen. Ich weiß nicht …«
Er lachte sie an und scherzte.
»Einen Patienten kann ich gerade noch verkraften, ohne zusammenzubrechen. Schick ihn rein.«
Ein paar Sekunden später vernahm Dr. Brunner ein festes einmaliges Klopfen. Auf sein »Herein« öffnete sich die Sprechzimmertür, und ein dunkelhaariger Hüne füllte den Türrahmen aus.
Der Landarzt kannte Thomas Seeger seit dessen Kindheit. Thomas war mit seinen beiden Kindern, den Zwillingen Dorothea und Thorsten, in die gleiche Klasse gegangen.
Breitbeinig stand er da, wie im Boden verankert. Klares Profil, kraftvolle Züge und ein offenes herzliches Lächeln. Ein Frauentyp, die breite Schulter zum Anlehnen. Klar, dass ihm alle Mädchen nachlaufen, dachte Matthias belustigt.
Er stand auf und ging auf den Uhrmachermeister zu.
»Grüß dich, Thomas. Wo drückt denn der Schuh?«
Die beiden tauschten einen festen Händedruck.
»Guten Tag, Herr Doktor. Nichts Schlimmes, aber etwas Hinderliches. Ein entzündeter Finger, der mich mächtig bei meiner Arbeit stört«, antwortete Thomas mit angenehm klingendem Bass.
»Zeig mal.« Dr. Brunner setzte die Brille auf. »Das sieht tatsächlich nach Schmerzen aus. Dann wollen wir mal schauen …«
Das Nagelbett von Thomas´ Zeigefinger war stark geschwollen und gerötet. Am rechten Rand schimmerte es gelb unter der gespannten Haut.
»Ein ausgewachsenes Panaritium«, murmelte Matthias Brunner. »Mit ein bisschen Glück können wir den Nagel erhalten. Aber der Eiter muss raus.«
Sein Patient nickte.
»Ich werde den Finger örtlich betäuben, damit du nichts spürst.«
Eine eitrige Entzündung des Nagelbettes war nichts Gefährliches, konnte jedoch, wenn sie unbehandelt blieb, schwerwiegende Folgen haben.
Während der Arzt sich an die Arbeit machte, begann er, mit dem jungen Mann zu plaudern, worauf Thomas auch sofort einging.
»Wie geht’s Dorothea und Thorsten?«, erkundigte er sich.
»Bestens«, erzählte der Landarzt voller Stolz. »Dorothea und ihr Mann sind ganz vernarrt in ihren kleinen Sohn. Er ist gerade vergangene Woche zwei Jahre geworden. Und Thorsten steigt als jüngster Konzertdirigent in Deutschland auf der Karriereleiter immer höher. Zurzeit macht er eine Tournee durch Japan.«
»Ich hab’s in der Zeitung gelesen. Alle Achtung.« Thomas gab einen bewundernden Laut von sich. »Und dabei war Thorsten in der Schule in Musik schlechter als ich.«
Beide lachten.
»Manche Talente zeigen sich erst später«, erwiderte Dr. Brunner.
»Wohnt Dorothea noch in Titisee?«
»Sie sind vor einem halben Jahr nach Freiburg gezogen. Ihr Mann hat dort eine Konrektorstelle bekommen.« Während Matthias umsichtig die Wunde versorgte, erkundigte er sich: »Wie läuft’s mit deinem Geschäft?«
»Ich kann nicht klagen.« Thomas nickte mit bekräftigender Miene. »Inzwischen vertreibe ich meine Kuckucksuhren sogar schon in Asien. Das Internet macht’s möglich.«
»Gratuliere.« Der Landarzt verband den Finger. »So, das hätten wir.« Er stand auf. »Ich verschreibe dir noch ein Antibiotikum. Jeden Tag eine Tablette, bis die Packung zu Ende ist. In drei Tagen möchte ich dich noch einmal sehen. Und bitte, schone die Hand.«
»Danke, Herr Doktor.« Der junge Mann atmete erleichtert auf. »Ich bin Rechtshänder. Da habe ich Glück.«
»Wie geht’s deinen Eltern?«
»Alles bestens. Mutters Hofladen hat durch meine Werkstatt auch einen großen Aufschwung erlebt. Wenn die Touristen bei mir Uhren kaufen, gehen sie meist um die Ecke, um noch eine Flasche Kirschwasser oder ein Stück Käse mitzunehmen.«
»Dann läuft ja, abgesehen vom Finger, zurzeit alles rund bei euch. Das freut mich.«
»Na ja …« Thomas seufzte. Seine Miene verdunkelte sich. »Wenn mich meine Eltern nur nicht ständig damit nerven würden, dass sie endlich einen Enkel haben wollen.«
»Das kann ich verstehen.« Die grauen Augen hinter den Brillengläsern bekamen einen versonnenen Blick. »Meine Frau und ich sind auch ganz verrückt auf unseren kleinen Tim. Andererseits kannst du dir als Mann in deinem Alter noch Zeit lassen. Eine sichere Existenz ist eine wichtige Voraussetzung für die Familiengründung.«
Thomas lachte sein fröhlich klingendes Lachen. »Das sage ich ihnen auch.«
»Gibt’s denn schon eine, die du vie…« Matthias zwinkerte ihm verschmitzt zu.
Thomas lachte. »Zu viele, wenn Sie mich fragen. Aber mir ist nicht an irgendeiner Affäre gelegen. Ich glaube fest daran, dass ich meiner Traumfrau irgendwann begegnen werde. So lange werde ich warten.«
»Wenn du vor ihr stehst, wirst du’s merken«, erwiderte Matthias Brunner. »Das kann ich dir aus eigener Erfahrung verraten.«
Thomas sah ihn mit strahlenden Augen an, schwieg ein paar Lidschläge lang und sagte dann ernst: »Sehen Sie, Herr Doktor, dass ist zum Beispiel ein Grund dafür, dass alle froh sind, wieder zu Ihnen kommen zu können. Allein dieses kurze Gespräch mit Ihnen. Sie sagen immer das Richtige. Ganz abgesehen davon, dass das Pochen in meinem Finger schon aufgehört hat.«
Der Landarzt stand auf und reichte ihm die Rechte.
»Danke, Thomas«, sagte er in herzlichem Ton. »In drei Tagen will ich deinen Finger wiedersehen. Und einen Gruß an die Eltern.«
Das bäuerliche Anwesen, auf dem Thomas in einem modernisierten Nebengebäude wohnte und arbeitete, lag unterhalb schwarz bewaldeter Höhen in blühenden Wiesen mit Blick auf den Ruhweiler Weiher. Hier kamen abends die Rehe bis an den Gartenzaun, zur Freude der Feriengäste, die seine Eltern unter dem tief gezogenen Holzschindeldach beherbergten.
Thomas trabte im Laufschritt los, wie jeden zweiten Abend. Nach seiner Arbeit in der Werkstatt brauchte er Bewegung an der frischen Luft. Sein Ziel war das Hochplateau oberhalb des Ortes. Dort gab es kilometerlange Wanderwege, auf deren weichem Waldboden es sich herrlich joggen ließ.
Der junge Mann kam jedoch nicht weit. Nach der ersten Biegung entdeckte er eine Frau mitten auf dem Weg sitzend. Mit dem Rücken zu ihm.
Nanu?
Er verhielt den Schritt, sah sich um und stellte fest, dass sie allein sein musste. War sie etwa verletzt?
Er