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Wenn ich dir noch vertrauen könnte!
»Ich werde wieder arbeiten«, sagte Dr. Matthias Brunner mit fester Stimme in die friedliche Stille hinein, die an diesem lauen Sommerabend über den Schwarzwaldhügeln lag.
Ulrike, seine Frau, ließ das Buch langsam in den Schoß sinken. Mit entsetztem Blick sah sie ihn über die Lesebrille hinweg an.
»Was willst du?«
»Du hast richtig gehört.«
Sie schlug die Seiten zu. Knall! Lump, der deutsche Drahthaar, der zu Brunners Füßen lag, hörte auf zu schnarchen und sah ihn verständnislos an. Seine Frau beugte sich vor.
»Darf ich dich daran erinnern, was die Ärzte in der Rehaklinik gesagt haben, aus der du erst vor zwei Tagen entlassen worden bist?«
Matthias schnaubte durch die Nase.
»Ich bin selbst Arzt. Ich kenne meinen Körper besser als meine Kollegen dort.«
Seine Frau sagte nichts. Er kannte sie. Mehr als dreißig Jahre. Ihre Ruhe war die besagte vor dem Sturm.
Ulrike blickte eine Weile schweigend über die blühenden Wiesen hinweg zu den Tannenwäldern, die sich am Horizont schwarz in den dämmrigen Himmel erhoben.
»Ich kann mich doch noch nicht mit siebenundfünfzig Jahren zur Ruhe setzen«, appellierte er in zunächst ruhigem Ton an Ulrikes Verständnis. Doch dann gingen mit ihm plötzlich die Gefühle durch. Die Angst vor endlos langen und leeren Tagen, sein schlechtes Gewissen seinen ehemaligen Patienten gegenüber, die Sehnsucht danach, seine Praxisräume neben ihrem Wohnhaus wieder mit Leben zu füllen. »Kannst du mir sagen, was ich zukünftig den ganzen Tag tun soll? Im Keller mit der Eisenbahn spielen? Mit unserem Enkel auf dem Spielplatz sitzen? Mit Lump spazieren gehen? Oder etwa Grete beim Gardinenaufhängen helfen?« Atemlos hielt er inne, spürte sein Herz wieder beunruhigend schnell schlagen. Er wartete auf eine Reaktion seiner Frau.
Der Anflug eines amüsierten Lächelns in ihren Mundwinkeln, das sie jedoch schnell unterdrückte, gab ihm Hoffnung. Sie schwieg weiterhin und schaute einem Schwalbenpärchen nach, das Seite an Seite am Himmel seine Kreise zog.
»Meine Patienten brauchen mich. Sie warten darauf, dass ich die Praxis weiterführe«, fügte er in eindringlichem Ton hinzu. »Hier gibt’s weit und breit keinen anderen Arzt. Jetzt, da ich wieder gesund bin …« Er verstummte
Ulrikes Blick kehrte zu ihm zurück. Der Ausdruck des Entsetzens in ihren Augen war dem von tiefer Besorgnis gewichen.
»Matthias …«, begann sie, »neben deinem Herzleiden hat dich deine Arbeit krank gemacht. Schon vergessen? Das volle Wartezimmer jeden Morgen, deine Seelsorge um jeden einzelnen Patienten, der Ärger mit den Krankenkassen, Hausbesuche, Nachtwache am Bett von Sterbenden … Es stimmt. Mit siebenundfünfzig bist du noch nicht alt, aber zu alt, um dir gleich nach deinem Zusammenbruch wieder Stress anzutun.«
»Schatz …« Er fing ihren Blick ein, hielt ihn fest. Dann schob er sich aus dem Gartensessel nach vorn und nahm ihre Hand in seine. »Ich brauche meine Arbeit. Und ich verspreche dir, dass ich’s ganz langsam angehen lassen werde. Erst mal nur halbtags.«
Ulrike biss sich auf die Lippe. »Du würdest eine Sprechstundenhilfe brauchen.«
Er sah sie an, wie sie ihren Blick wieder auf die Landschaft richtete, und wusste, welchen Kampf sie gerade mit sich ausfocht.
Immer noch war sie eine schöne Frau. Für ihn die schönste auf der Welt. Die Jahre hatten sie ein wenig molliger werden lassen. Ihm gefiel’s. Ihre Augen, von dem lichten Blau des Abendhimmels, verzauberten heute noch die Männer, ohne dass sie es wollte. Ihr Charme, ihr Einfühlungsvermögen und ihr Gerechtigkeitsempfinden zogen alle Menschen in ihren Bann.
Er rückte näher an sie heran, ließ den Finger zärtlich über ihren kurzen Nackenrücken gleiten. Dabei füllte sich sein Herz mit Liebe und Dankbarkeit. Ohne sie hätte er die Krankheit nicht überstanden. Ulrike hatte ihm von ihrer Kraft abgegeben, was auf ihren regelmäßigen Zügen Spuren hinterlassen hatte. Schatten lagen unter ihren Augen. Und vielleicht hatte sie sogar ein paar Fältchen mehr bekommen. Sorgenfältchen, aus Angst um sein Leben.
»Ich weiß«, murmelte er, während sich in ihm das schlechte Gewissen ausbreitete. »Falls ich die Praxis wieder öffnen sollte, brauche ich eine Sprechstundenhilfe.«
Verhielt er sich vielleicht zu egoistisch ihr gegenüber, wenn er seinem Bedürfnis nachgab, wieder zu arbeiten?
»Ich wüsste schon eine, die gut zu dir passen würde«, hörte er da seine Frau sagen.
Überrascht hob er den Kopf.
Sie lächelte, verflocht ihre Finger mit seinen.
»Ich habe Schwester Gertrud heute zufällig im Dorf getroffen.« Ulrike sah ihn schelmisch an. »Bis jetzt hat sie noch keine neue Stelle. Sie lehnt es ab, in einer großen Klinik zu arbeiten. Und hier im Umkreis gibt es keine andere Landarztpraxis.«
Schwindel erfasste ihn.
Das war ja viel zu schön, um wahr zu sein!
»Glaubst du …?« Er sah seine Frau erwartungsvoll an.
»Gertrud wäre wieder dabei.«
»Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?«
Sie zwinkerte ihm zu. »Ich kenne doch meinen Mann.«
Da wurde ihm das Herz weit. Er stand auf, zog sie hoch und nahm sie in die Arme.
»Dann bist du also einverstanden?«, fragte er leise.
»Nur, wenn du’s nicht wieder übertreibst«, sagte sie streng mit erhobenem Zeigefinger.
Er lachte befreit, drückte ihren Kopf an seine Brust.
So blieben sie eng umschlungen eine Weile stehen, beobachteten das Schattenspiel von Gold und Dunkelheit über der Talsenke, atmeten den vertrauten Duft von Tannen und Harz ein. Herz an Herz. Dabei raschelten die Blätter im lauen Abendwind. Und dieses Rascheln kam ihnen vor wie ein vielversprechendes Flüstern.
In Ruhweiler hatte es sich schnell herumgesprochen, dass Dr. Brunner seine Arbeit wieder aufnehmen würde. Erleichterung und Freude herrschten unter den Dorfbewohnern. Besonders die Älteren hatten ihren Doktor vermisst, der für alle Probleme stets ein offenes Ohr gehabt hatte.
So war am ersten Arbeitstag des Landarztes das Wartezimmer wie früher wieder bis auf den letzten