Diese Stimme kannte sie. Sie kannte sie nur zu gut! Sie gehörte Arpad, Xenias Freund, den diese so sehr anhimmelte.
»Arpad?« fragte sie, blieb aber gehorsam sitzen. Noch einen Hieb gegen den Schädel wollte sie nicht riskieren.
»Das hast du nicht vermutet«, höhnte es aus dem Gebüsch. »Damit hat niemand gerechnet. Ich habe mich auch sehr zusammenreißen müssen, damit ich nicht eher erkannt wurde.«
»Aber warum ich? Warum hast du mich weggeschleppt?« fragte Angelika. Sie ahnte etwas, was sie sich nicht eingestehen wollte. Doch diese Ahnung sollte aufs Schlimmste bestätigt werden. Sie tastete an ihren Hals. Nichts!
»Wenn ich schon weglaufen muss, dann brauche ich doch Proviant«, bestätigte Arpad ihre Befürchtungen. »Noch habe ich dich nicht unter meinen Zähnen gespürt, doch gleich ist es so weit. Ich brauche Nahrung. Ich muss nur einen kleinen Augenblick verschnaufen, dann kommst du dran.«
*
Der Erkundungshelikopter behielt die auf den Anlegepunkt 45 zumarschierende Gruppe im Auge. Wegen der dicht stehenden Bäume und der Enge der Wege, die durch von Stürmen umgerissene Bäume teilweise blockiert wurden, waren die Reiter abgestiegen und auch die Fürstenbrüder waren aus dem Geländewagen ausgestiegen und marschierten an der Spitze des Zuges. Trotz der Fackeln kamen sie nur langsam vorwärts, denn auch der Weg war voller Löcher und die Sicht blieb mäßig bis bescheiden.
Auf der Donau hatte das Schnellboot der bulgarischen Binnenmarine inzwischen die »Danubia« Queen erreicht.
Kapitän Stojanow hatte kurz zuvor ein Drohtelefonat aus Bukarest aufgeschreckt: Hilfe von bulgarischer Seite sei nicht erlaubt, vielmehr streng untersagt, da die Bulgaren auf rumänischen Gebiet aktiv werden müssten. Dazu stünden eigene Kräfte bereit. Auf seine sofortige Rückfrage, bis wann er mit Unterstützung rechnen könne, hatte man ihn vertröstet: In zwei Tagen könne man eventuell …
Auf Frau Schmidt-Wellinghausens Rat hin hatte er auf UNO und EU und vor allem auf die Vereinbarungen der IAVA verwiesen, die diese für Notfälle international abgeschlossen hatte.
Woraufhin sich Bukarest nicht mehr gemeldet hatte.
Die Besatzung des Schnellboots war sofort bereit, an Land zu gehen und sich an der Suche nach der Entführten und ihrem Entführer zu beteiligen. Auf Anraten des Kapitäns, der die dichten Wälder und verschlungenen Pfade kannte, nahmen sie leicht tragbare Scheinwerfer mit, deren Batterien auf mehrere Stunden Leuchtkraft ausgelegt waren.
Wer nichts sah, konnte auch nichts finden, das war eine allgemein gültige Wahrheit. Außerdem gab der Kapitän dem Führer der Schnellboottruppe, einem Oberleutnant der Reserve, die mit Silberkugeln geladene Pistole mit, die er vorsorglich bereitgehalten hatte. Arpad, der desertierte Erste Steuermann und Entführer von Angelika, war ein echter, ein »klassischer« Vampir. Da half nur Silber; normale Kugeln richteten zwar kurzzeitig einen gewissen Schaden am Körper an, doch die Wunde schloss sich innerhalb von Minuten. Die dabei eingesetzte Munition war schlicht und einfach vergeudet.
Jonny, der sich um die von Weinkrämpfen geschüttelte Xenia kümmerte, sprach den Oberleutnant kurz an, gerade als dieser sich mit seiner Truppe auf den Weg machte.
»Bitte, bitte, bringen Sie mir meine Liebste zurück. Ich würde ja so gerne selber, aber ich bin blind in dieser finsteren Nacht wie ein Holzpferd. Hoffentlich …«
»Wir tun alles, was wir können«, versicherte der Oberleutnant in einem etwas holprigen Englisch, Sie können sich darauf verlassen!«
Und Dr. Beuteler, der versuchte, Xenia mit einem Beruhigungsmittel zur Ruhe kommen zu lassen, bot Jonny an:
»Ich kann Ihnen auch gerne eine Spritze geben.« Doch dieser lehnte ab, denn falls sich die Suche in den aufdämmernden Tag hineinziehen sollte, wollte er fit genug sein, um sich an der Suche zu beteiligen.
*
Angelika hatte im Dunkel des Waldes und auf dem harten Felsboden liegend große Mühe, die Panik nicht aufkommen zu lassen, die sie zu befallen drohte. Gewiss, Arpad war nie ein Mann gewesen, der für sie persönlich interessant gewesen wäre, aber es hatte den Anschein gehabt, als habe Xenia endlich nach langer Suche den Mann fürs Leben gefunden. Und nun das!
Sie hatte nicht im Traum daran gedacht, dass Arpad einer jener Blutsauger sein könnte, vor denen in den Horror-Romanen gewarnt wurde. Arpad war Bulgare oder besaß zumindest so einen Pass, aber es war ja auch überall in der einschlägigen Literatur zu lesen, dass der Vampirismus – ausgehend vom transsilvanischen Rumänien – ein internationales Phänomen war, das wegen seinem Hang zur weltweiten Ausbreitung zunehmend zu einer Gefahr für die normalen Menschen zu werden schien.
Sie schreckte aus ihren Gedanken hoch, als sich hinter ihr Arpad mit einem »Auf zum Schmaus!« hören ließ. Verzweifelt suchte sie mit den Händen rund um sich herum nach einem lockeren Felsbrocken, streckte sich, soweit das im Sitzen möglich war, und fand so etwas wie eine größeren runden Kieselstein und hielt ihn mit der rechten Hand fest.
Als Arpad, kaum zu erkennen im Waldesdunkel, vor ihr auftauchte, stutzte sie. Er hatte einen merkwürdigen Gang, so als ob er sich verletzt hätte.
»Oh!« entschlüpfte es ihr, sodass der Steuermann erkannte, dass ihr etwas aufgefallen war. Und dann machte er einen Fehler.
»Ich habe mir vorhin meinen linken Knöchel verstaucht, das tut verdammt weh. Du wiegst einfach zu viel, und so hatte ich keinen sicheren Tritt und diesem stockdusteren Wald. Deswegen musste ich mich hier auch einen Augenblick hinsetzen. Aber jetzt geht es wieder. Und nun bist du dran!«
Der Knöchel! Angelikas Gedanken rasten, dann wusste sie, was zu tun war. An Bord hatte sie sich heute Abend geärgert, dass sie die schweren Schuhe vom Landgang nicht gegen leichte Bordsandalen ausgetauscht hatte. Nun war das eine Möglichkeit, vielleicht sogar die Rettung.
Als sich Arpad ihr soweit genähert hatte, dass er sich bückte, um sie zu sich hochzuziehen, drehte sie sich mit einer schnellen Bewegung, so dass sie auf der Seite lag, und trat mit aller Kraft zu.
Sie traf den verstauchten Köchel genau dort, wo es besonders wehtat. Arpad schrie kurz auf, fiel nach hinten und krümmte sich vor Schmerzen. Genau auf die Stelle, auf der er lag, fiel ein schwaches Licht der Sterne. Angelika stemmte sich hoch, überlegte kurz, während sie auf den Verletzten hinuntersah, und dachte dann: Meine Sicherheit geht vor. Und fair war der Kerl zu mir auch nicht. Sie zielte genau und trat ihm dann noch einmal mit der ganzen Kraft, zu der sie fähig war, gegen den Knöchel, genau zwischen die beiden Hände, mit denen er ihn jammernd hielt.
Arpad wurde ohnmächtig. Angelika überlegte kurz, wohin sie sich wenden sollte, dann hörte sie von weitem ein Knacken der trockenen Hölzer, die auf dem Waldboden lagen, und wandte sich in jene Richtung. Sie hoffte, so auf Leute zu stoßen, die nach ihr suchten.
*
Die Gruppe aus Dragovac hatte etwa einen Kilometer vor der Anlegestelle haltgemacht. Für Feldwebel Krazow ein Alarmsignal. Der Erkundungs-Helikopter musste an Höhe gewinnen, denn seine Scheinwerfer luden die Armbrustschützen geradezu ein, ihn zu beschießen. Gerade als einer der Bolzen seine Heckscheibe streifte und einen unangenehm kratzenden Laut verursachte, erhielt Feldwebel Krazow, der Pilot, per Funk die Anweisung von seinem Staffelführer: »Feuer frei auf Anweisung von Sofia. Bei Angriff auf Fluggerät oder die eigene Person haben Sie ab sofort das Recht und die Pflicht zurückzuschießen. Ich wiederhole: Feuer frei!«
Der Pilot bestätigte und entsicherte das bordeigene Maschinengewehr, da gab es einen lauten Knall, der das Geräusch der Rotoren übertönte. Ein Bolzen hatte die Rotorachse genau da getroffen, wo die Rotorblätter verankert sind: im Drehkreuz. Der Helikopter geriet in Schwankungen, und Feldwebel Krazow hatte Mühe, das Fluggerät in der Luft zu halten. Es drohte abzustürzen. Als er den Eindruck hatte, dass die Schwankungen zu stark wurden, drehte er ab.
Gerade rechtzeitig, um in einiger Entfernung Angelika