Misstraute sie allem, entwickelte sie einen zu nichts führenden Aktionismus, weil das, was da geschah, was nicht zu erklären war, ihr Angst machte? Angst … War das das richtige Wort? Kelly wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie jetzt unbedingt mit Jonathan sprechen musste.
Und weil das für sie so dringend war, entschloss Kelly sich, nicht am Strand entlang zu laufen, was ihr sicherlich gut tun würde, sondern den Landweg zu wählen, bis Blackham Market zu fahren, ihr Auto dort irgendwo abzustellen und dann zu seiner Strandbude zu laufen. Ja, genau das würde sie tun.
Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Kelly war so erleichtert, hatte es plötzlich so eilig, dass sie zum hoteleigenem Parkplatz geradezu stürmte und dabei beinahe einen Mann umgerissen hätte, der aus seinem Wagen etwas geholt hatte.
Kelly entschuldigte sich, ignorierte, dass er einem kleinen Schwätzchen nicht abgeneigt wäre, dann setzte sie sich in ihr Auto und brauste viel zu schnell davon.
Jonathan … Der war jetzt ihr Rettungsanker! Jonathan würde ihr einen Tipp geben, was sie nun mit dem Grabstein machen sollte.
Jonathan würde ihr zuhören.
Jonathan würde ihr überhaupt sagen, was sie jetzt tun sollte.
Kelly spürte, wie sie sich zu beruhigen begann.
Sie würde ihm alles erzählen und ihm ganz viele Fragen stellen und konnte nur darauf hoffen, dass keine Gäste in der Strandbude sein würden, auch wenn ein solcher Wunsch von ihr sehr egoistisch war.
So gut Kelly sich auch mit Rosalind verstand. Sie wusste, dass sie mit ihr über all das nicht reden konnte, weil Rosalind es nicht verstehen würde.
Rosalind stand mitten im Leben, sie war sehr klar … Doch war sie das nicht auch gewesen, ehe ihr eigenes Leben ihr um die Ohren geflogen war? Stopp! Ihre Gedanken begannen sich wieder im Kreis zu drehen, und das musste sie auf jeden Fall verhindern.
Sie machte das Autoradio an, zappte sich nervös von Sender zu Sender, um schließlich, ohne das sie etwas gefunden hatte, festzustellen, dass sie in Blackham Market angekommen war.
Es war nicht viel los, denn die Wochenendbesucher waren zum größten Teil abgereist, und das Wetter sah heute auch nicht sehr vielversprechend aus. Außerdem war es noch sehr früh. Wer Urlaub machte, stand nicht unter Zeitdruck, lebte nicht nach der Uhr, und das bedeutete, dass man es sich schon am Frühstückstisch gemütlich machte.
Nun, ihr sollte alles recht sein. Sie fand einen guten Parkplatz direkt oberhalb der Strandbuden. Das war ein gutes Zeichen.
Kelly griff nach ihrer Tasche, stieg aus, dann rannte sie hinunter, bog um die Ecke, blieb entsetzt stehen. Es war alles abgesperrt.
Ihre Sorge, Jonathan könne etwas passiert sein, war unbegründet.
Als sie die Brettertür erreicht hatte, konnte sie den weißen Zettel lesen, den er da angenagelt hatte, damit der Wind ihn nicht herunterreißen konnte. Wie enttäuschend!
Auf dem Zettel stand, dass die Strandhütte die ganze Woche über geschlossen bleiben würde! Damit hatte sie nicht gerechnet. Davon hatte er ihr nichts erzählt. Warum sollte er? Da hatte es zwar dieses Ereignis gegeben, als er ihr von seinem Traum erzählt hatte.
Doch danach hatten sie sich nicht wiedergesehen, und Kelly war überzeugt davon, dass Jonathan sie auch nicht zu seiner Vertrauten gemacht hätte, wäre es anders gewesen.
Sie war so enttäuscht, dass sie an sich halten musste, um jetzt nicht einfach loszuweinen. Eine ganze Woche würde er nicht öffnen. War er verreist? Wohnte er in Blackham Market? Brauchte er Hilfe? Fragen um Fragen, auf die sie keine Antwort wusste. Eines wusste sie aber …
Sie war keinen Schritt weiter und würde vermutlich den Grabstein mindestens diese eine Woche lang durch die Gegend fahren müssen.
Hatte sie nicht abreisen wollen?
Daran hatte sie doch auch schon gedacht und hatte an sich halten müssen, nicht direkt ihren Koffer zu packen und zurück in ihr altes Leben zu fahren.
Und nun?
Auch diese Frage hatte sie sich bereits mehr als nur einmal gestellt, ohne eine Antwort darauf zu bekommen.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Parkplatzes entdeckte sie eine kleine, nicht gerade vertrauenerweckende Kaffeebar, kaufte sich einen »coffee to go«, und erkundigte sich so ganz nebenbei: »Die Strandbude da unten ist für eine Woche geschlossen, ist der Mann krank? Sonst macht man ja wohl nicht mitten in der Saison einfach zu.«
Das junge Mädchen grinste breit.
»Ach, Sie meinen Jonathan. Nein, der ist nicht krank, der macht nur, was er will. Und wenn er keine Lust hat, dann macht er nicht auf. Ich finde es super, wenn man über sein Leben frei entscheiden kann. Ich beneide ihn darum, wenn ich daran denke, dass ich …«
Es war unhöflich.
Kelly wusste es, doch sie ahnte, was nun kommen würde …, die Lebensgeschichte dieses jungen Dings, das sich benachteiligt fühlte, weil es arbeiten musste, um nicht entlassen zu werden. Jedes Ding hatte zwei Seiten. Jonathan, jeder Selbständige überhaupt, musste sehen, wie er zurecht kam, war jemand angestellt, war er nicht frei in seinen Entscheidungen, musste seine festgelegten Arbeitszeiten einhalten, musste mit einem vielleicht quengeligem Chef zurechtkommen, was bestimmt nicht immer einfach war. Aber er hatte den Vorteil zu wissen, dass er am Monatsende immer sein Geld bekommen würde. Und so etwas war auch nicht zu verachten.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Kelly rasch, »ich muss weiter. Sie bezahlte, legte ein ordentliches Trinkgeld dazu, danach verließ sie die Kaffeebar.
Auf dem Weg zu ihrem Auto trank sie von ihrem Kaffee, verzog das Gesicht. Abgesehen davon, dass er nicht heiß war, schmeckte er grottenschlecht. Am nächsten Abfalleimer, die überall hier herumstanden, warf sie den Kaffeebecher hinein. Das hätte sie sich wirklich ersparen können.
Es war beruhigend zu wissen, dass Jonathan offensichtlich nicht krank war, doch das brachte sie jetzt auch nicht weiter.
Sie ging zu ihrem Auto, öffnete den Kofferraum, starrte auf den Grabstein, der leider ganz real da lag, und sich nicht als eine Fata Morgana verwies.
Kelly schob die Decke beiseite, strich, ihr vollkommen unbewusst, über die verblichene Schrift.
Es war merkwürdig, und es war durch nichts zu begründen.
Kelly empfand diese Berührungen als tröstlich.
Und noch merkwürdiger war, dass sie auf einmal wusste, was sie zu tun hatte.
Warum war sie nicht direkt darauf gekommen? Es gab eine Lösung! Und es gab auch nur diese eine!
»Kelly MacCready, ich weiß, wohin ich dich bringen muss, nämlich dahin, wohin du gehörst, nach Hause.«
Kelly Mortimer war auf einmal so erleichtert, und auf einmal machte auch alles Sinn.
Es hatte sie zu dem Grabstein gezogen.
Sie war, ohne Plan und ohne Vorbereitung, ja, ohne es zu wissen, auf dem Anwesen der MacCreadys gelandet, dem »Seagull«.
Sie hatte die Zeichen, obwohl sie so deutlich gewesen waren, einfach übersehen.
Sie hatte den Grabstein finden müssen, um ihn an genau diesen Platz zu bringen.
Und dass sie nun auch Kelly hieß, dass auch sie an einem sechzehnten September Geburtstag hatte, dass sie zufällig ebenfalls fünfundzwanzig Jahre alt war …
Das war Zufall!
Warum hatte sie es nicht gleich als einen solchen angesehen, warum hatte sie sich in wilde Theorien verrannt, hatte in etwas sehr einfaches einen ganzen Roman hineininterpretiert, mit sich in der Hauptrolle.
Und angeheizt durch Jonathans Worte hatte sie direkt etwas Schicksalhaftes daraus gemacht. Wie absurd! Aber da konnte man mal sehen, wie sehr schnell etwas aus der Kontrolle geraten konnte, wenn man sich