Auch den Jahreswechsel hatte Sandra bei Plusgraden im Freien gefeiert. Beim raketenfreien Silvesterspektakel am Hauptplatz, das nach Corona-bedingter Absage im Vorjahr heuer wieder stattgefunden hatte. Vereinzelt waren aus den Nebengassen der Altstadt verbotene Böller zu hören, noch weiter entfernt Raketen am Nachthimmel zu sehen gewesen. Am Hauptplatz selbst schossen die Wasserfontänen bis übers Rathaus hinaus in die Höhe, eindrucksvoll choreografiert zu Musik, Licht- und Feuereffekten. Was in einer klirrend kalten Winternacht geschehen würde, wenn das Wasser in der Luft gefror und als Eisregen auf die umstehende Menschenmenge herniederprasselte, wollte sich Sandra lieber nicht ausmalen. Oder würde das Silvesterspektakel bei Minusgraden abgesagt werden? Die extradicke Salzschicht, die vorsichtshalber auf dem Hauptplatz gestreut worden war, konnte kaum verhindern, dass dieser sich zumindest stellenweise in eine gefährliche Eisfläche verwandelte. Anscheinend vertrauten die Veranstalter auf die Erderwärmung. Auch Sandra konnte auf Eis und Matsch in der Stadt verzichten. Ein paar Bäume auf dem mit Beton versiegelten Hauptplatz, die an heißen Sommertagen Schatten spendeten und für Abkühlung sorgten, hätte sie sich dennoch gewünscht.
Sie folgte weiterhin der Ennstal-Bundesstraße. Die Gipfel der verschneiten Berge leuchteten in der untergehenden Sonne. Heuer war der Schnee dort, wo er hingehörte. In den Alpen. Wenn auch nicht in solchen Massen wie im Winter 2019/20, als die Obersteiermark regelrecht im Schnee versunken war. Bis zu zehn Meter hohe Schneewehen hatte man damals am Altausseer Loser gemessen. Und auch andernorts Rekordwerte verzeichnet. Ein kurzes Schnaufen an ihrer Seite ließ sie zu ihrem Beifahrer hinüberblicken.
Bergmann döste vor sich hin.
Wenigstens konnte sie sich ungestört dem Verkehr und dem Alpenglühen widmen. Vor ihnen thronte Schloss Trautenfels auf einem Felsvorsprung über der Enns. Rechter Hand ragte der schneebedeckte Grimming eindrucksvoll in den Abendhimmel. Früher hatte man den mächtigen frei stehenden Gebirgsstock für den höchsten Berg der Steiermark gehalten. Jedoch reichte das Dachsteingebirge noch um einiges höher hinauf, bis zum Gipfel des Hohen Dachsteins auf fast 3.000 Meter.
An der Ampel hielt Sandra an und setzte den Blinker, um gleich auf die Salzkammergutstraße abzubiegen, als Bergmann die Augen öffnete und sich umsah. Auf seiner Seite lag die Ortschaft Pürgg malerisch auf einem kleinen Felsplateau.
»Na? Ausgeschlafen?«, erkundigte sich Sandra.
Bergmann antwortete mit einem Gähnen.
»Voll schön hier, gell?«, fragte sie rein rhetorisch. Sandra wusste genau, dass der gebürtige Wiener kein Freund der Berge war. Unabhängig von der Jahreszeit. Nomen est omen traf gewiss nicht auf Bergmann zu. Woher auch immer sich sein Familienname ableitete. Ebenso wenig konnte sich der Chefinspektor mit Bergbewohnern anfreunden. Was zumeist auf Gegenseitigkeit beruhte. Weiter als bis zum nächsten Grat oder Gipfel können die engstirnigen Provinzler nicht sehen, war er überzeugt. Selbstredend galt das für ihn auch im übertragenen Sinn. In einigen Fällen mochte er damit sogar recht haben. Sandra glaubte auch, dass die Mentalität der Menschen nicht zuletzt von der Landschaft geprägt wurde. Aber sie versuchte wenigstens, ihnen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Selbst wenn das nicht immer ganz einfach war.
Der Blick nach Tirol zeigte, dass Felix Mitterer mit seiner Piefke-Saga sogar noch untertrieben hatte. An Weitblick fehlte es im »Heiligen Land« so manchem, der auf Profite aus der Tourismuswirtschaft nicht verzichten wollte. Selbst wenn er Menschenleben gefährdete. Warum sonst hatte man Liftanlagen und Bars in Ischgl nach Bekanntwerden der ersten Covid-19-Fälle erst nach Tagen geschlossen? Wäre verantwortungsvoll und unverzüglich reagiert worden, hätte sich das Corona-Virus nicht dermaßen rasant in halb Europa verbreiten können. Aber nachher war man bekanntlich immer schlauer. Hoffentlich. Am Imageschaden und an den Schadenersatzprozessen hatte nicht nur Tirol, sondern ganz Österreich zu kiefeln gehabt.
Bergmann blieb ihr eine Antwort schuldig und widmete sich seinem Smartphone.
Sandra musste schmunzeln. Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, dass sie sich wie ein altes Ehepaar verhielten. Wenngleich sie nicht unterwegs in den Urlaub waren, sondern zu einem Einsatzort, um die Ermittlungen in einem mutmaßlichen Tötungsdelikt aufzunehmen.
Endlich schaltete die Ampel auf Grün. »Schau mal, dort oben liegt Pürgg!«, sagte Sandra. »Der steirische Heimatdichter Peter Rosegger hat dem romantischen Örtchen seinerzeit den Namen ›Steirisches Kripperl‹ verpasst.«
Bergmann blickte über seine Lesebrille hinweg und gähnte demonstrativ.
»Die Häuser und Gassen drängen sich um zwei Kirchengebäude herum. Um die Pfarrkirche und die Johanneskapelle, die für ihre romanischen Fresken bekannt ist«, gab sie die Fremdenführerin. Weniger um Bergmanns Interesse zu wecken als aus Stolz auf ihre steirische Heimat.
Ihr Beifahrer war längst wieder mit seinem Handy beschäftigt.
»Jetzt schau dir doch wenigstens die wunderbare Landschaft an, bevor es finster wird!«
»Ich hasse Landschaft«, brummte Bergmann, ohne aufzublicken. »Noch dazu, wenn Schnee liegt.«
Sandra verdrehte die Augen. Das konnte ja heiter werden. Landschaft gab es im Salzkammergut reichlich. Vor allem Berge und Seen. Dazu Schnee in Hülle und Fülle. Sie verzichtete darauf zu erwähnen, dass sich die gesamte weitestgehend autofreie Ortschaft in den ersten beiden Adventwochen in einen zauberhaften Weihnachtsmarkt verwandelte. Mangels Interesse ihres Beifahrers behielt sie auch für sich, dass in Pürgg nicht die üblichen Standln, sondern Ställe, Garagen, Tennen und Privathäuser der Bewohner als Ausstellungs- und Verkaufsräume dienten, in denen vor allem traditionelles Kunsthandwerk präsentiert wurde. Dazu gab es musikalische Darbietungen, stimmungsvolle Lesungen und Führungen in der Kirche beziehungsweise Kapelle. Entsprechend gut besucht war der Advent auf der Pürgg alle Jahre wieder. Außer 2020, als er, wie die meisten Veranstaltungen, der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen war.
Nichts von alledem interessierte den Chefinspektor. Weder zählte er zu den Romantikern, noch war er ein Fan von Weihnachten oder anderen Familienfesten, wusste Sandra. Die letzten beiden Punkte trafen allerdings auch auf sie zu.
»Wie lange brauchen wir noch bis zum Einsatzort?« Bergmann steckte sein Handy ein.
»Eine halbe Stunde ungefähr«, schätzte Sandra. Linker Hand würde jeden Moment die Kulm Skiflugschanze auftauchen. Bei Kainisch musste sie dann von der Salzkammergutstraße in Richtung Grundlsee abfahren. Ab Gößl würde sie dem Navi vertrauen müssen, um ohne Umwege ans Ziel zu gelangen, das irgendwo am hintersten Winkel am Grundlsee lag.
Bergmann wollte sich dort zuallererst die Brandruine ansehen, außerdem mit dem Brandexperten und den Ausseer Polizisten sprechen, um sich ein möglichst umfassendes Bild zu machen.
3.
Am Einsatzort wurden die Ermittler bereits erwartet. Ein silberfarbener Minibus mit Grazer Kfz-Kennzeichen und ein Streifenwagen standen vor dem Polizei-Absperrband, das die Brandruine vor gleichwohl unerlaubten wie gefährlichen Zutritten absicherte.
Der Boden war an dieser Stelle spiegelglatt, stellte Sandra fest, als sie den Wagen abbremste. Anscheinend hatte die Feuerwehr mit Streusalz gespart.
Bergmann erstarrte mit schreckgeweiteten Augen, während Sandra den rutschenden Wagen abfing und rechtzeitig vor dem Flatterband zu stehen kam. »Meine Nerven«, beschwerte er sich und blies Luft aus.
»Geh bitte …« Sandra war in den Bergen aufgewachsen, hatte dort ihren Führerschein gemacht und kam entsprechend gut mit winterlichen Straßenverhältnissen zurecht. Im Gegensatz zu Bergmann, der ein hundsmiserabler Autofahrer war und es tunlichst vermied, sich hinters Steuer zu setzen. Lieber ließ er sich von ihr herumkutschieren. Noch dazu war sein Orientierungssinn unterentwickelt. Seine Ortskenntnisse in der Steiermark sowieso.
Im Licht der Autoscheinwerfer