Andere Häfen. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Публицистика: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783954629602
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einem Anfall kühlen Übermuts: „… oder wie ein Soldat, der am Abend vor der Schlacht unter einem Baldachin vor dem Zelt des Generals sitzt und mehr oder weniger andächtig seinen Ausführungen lauscht.“

      DIE DRITTE KATZE

      Schon wenn du Sätze aneinanderfügst, beginnst du zu lügen. Denn es gibt keine Zusammenhänge. Letztendlich dürftest du nicht einmal Wörter benutzen. Noch nicht einmal grunzen dürftest du, um etwas auszudrücken, was in Wahrheit niemals ausdrückbar ist. Stell dir einen Spiegel vor, der nur Falsches zeigt. Und stell dir nun das Meer vor! Das Meer, das nicht denkt und wogt und die Wellen rollen an den Strand, rollen wieder und wieder heran und schleifen Steine und Muscheln glatt und sie schleifen und schleifen – und wieder siehst du Zusammenhänge, aber das sollst du doch nicht! Stell dir nun dich selbst als dich selbst vor … oder als das Ich selbst … oder als das Selbst selbst … verstehst du, was ich meine? Es ist, als würde man an einem Sonntag zur Mittagszeit durch eine Kleinstadt spazieren und überall röche es nach Braten. Oder als würde dich Vivien besuchen. Und du legst deinen Kopf an ihren Busen, im Haus deiner Eltern, und dabei weißt du genau, dass du träumst, weil du Vivien erst kennen gelernt hast, als du längst zu Hause ausgezogen warst. Aber dennoch ziehen dich Viviens Arme an ihre weiche, kalte Brust, es ist wie ein Traum, den ein Fiebernder träumt, der nie du war. Irgendwo klappert Besteck auf Porzellan, als ob das, was gegessen werden muss, schwer zu essen wäre. Was ist schwer zu essen? Zäher Braten? Glitschiges? Drei Katzen suchen dich heim. Die erste heißt „Angst“, die zweite heißt „Zweifel“, doch die dritte ist einfach bloß eine Katze. Wer kann weiterleben, wenn er weiß, dass diese dritte Katze die fürchterlichste von den dreien ist? Wer kann weitertrinken, wenn Vivien stöhnt?

      RÜCKKEHR ZUR ERDE

      Ein Forschungsschiff kehrt von einer Expedition zurück. Es gibt nur einen einzigen Überlebenden, den, sagen wir mal, Ersten Offizier. Er berichtet, die übrige Besatzung sei einem Außerirdischen zum Opfer gefallen, einem Gestaltwandler, den er selbst schließlich nach einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd durch alle Ebenen des Schiffs an der Hauptschleuse getötet habe. Allmählich stellt sich jedoch heraus, dass er selbst dieser Außerirdische ist, den getötet zu haben er vorgibt. Man könnte diese Geschichte anders erzählen. Der Erste Offizier wird im Kälteschlaf wahnsinnig und glaubt nun, der Gestaltwandler zu sein, den er aus der Schleuse ins All gestoßen hat. Oder er findet bei den Verhören auf der Erde heraus, dass seine Geschichte nicht stimmen kann und er nicht er selbst ist. Oder der Gestaltwandler, der als Erster Offizier zur Erde kam, erkennt, wirklich der Erste Offizier zu sein, der offenbar im Kälteschlaf wahnsinnig wurde oder noch immer im Kälteschlaf liegt und die erfolgreiche Rückkehr zur Erde lediglich vom Bordcomputer vorgegaukelt bekommt. Oder er stellt fest, dass die ganze Mannschaft zur Erde zurückgekehrt ist, wobei hierbei zu überlegen wäre, ob es sich wirklich um die Besatzung oder um eine Kohorte Gestaltwandler handelt. Eleganter wäre es, wenn der Erste Offizier bei den Verhören ahnen würde, dass etwas Grundsätzliches nicht stimmt, nie und nimmer stimmen kann. Und nach und nach ahnt auch der Leser, dass es in der Geschichte gar nicht um zukünftige Ereignisse geht, sondern um jemanden, der in einem Mietshaus wahnsinnig wird und seine Mitbewohner für die Mannschaft eines Forschungsschiffs hält, auf der ein Gestaltwandler sein Unwesen treibt, der – ja, das ist es! – möglicherweise er selbst ist. Oder – noch besser! – ein Schriftsteller, der des Geschichtenerzählens müde ist, verstrickt sich beim Schreiben heillos in den Möglichkeiten, die sich unerwartet vor ihm auftun wie Falltüren, so dass er gar keine Zeit zu begreifen hat, dass ein Gestaltwandler die Mannschaft dezimiert, den er sich ausgedacht hat.

      SÜDWÄRTS

      Nein, nicht schlecht geschrieben, sondern schlecht gelesen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Am schlimmsten ist wohl, dass wichtige Erlebnisse fahrlässig überflogen werden. Sie kennen doch sicherlich dieses blendende Gleißen, wenn umgeblättert wird, wenn zu rasch umgeblättert wird, und man kaum noch nachkommt, Sinn in den Geschehnissen zu erkennen, deren Häufung absurd wird, weil zu hastig weitergeblättert wird. Figuren tauchen so schnell auf, wie sie verschwinden, und ich lausche gerade wehmütig dem Wind in den Espen, dem Schwirren der Blätter und schon marschiere ich – die Waffe im Anschlag – durch einen Hinterhof. Die Ermittlungen machen Fortschritte, aber mir scheint, dass die Lösung des Falls erheblich näher wäre, hätte man sich die Mühe gemacht, meine Verhöre gründlicher zu lesen. Hat dieser Alte auf der Veranda nicht den entscheidenden Hinweis gegeben? „Da war dieses Mädchen“, sagte er – und verschwand im Gleißen. Ich komme erst wieder zu mir, als ich im Wagen südwärts fahre. Neben mir, sehe ich, sitzt mein Partner, er wirkt verkatert, hat einen Kranz auf dem Schoß, einen Kranz, wie man ihn auf Gräber legt. Aber denken Sie, ich könnte ihn fragen, wieso er den Kranz auf dem Schoß hat? Kaum sehe ich den Kranz, vergeht mein Partner, dessen Namen ich mir nie merken kann, mitsamt dem verdammten Kranz im Gleißen, und dabei ist der Fall denkbar unkompliziert. Eine mächtige Familie vertuscht etwas. Ich stehe unter der Dusche und kalt rinnt das Wasser über mein Gesicht. Männer treffen sich unter einer Brücke. Einer hat in einem Pappkarton etwas Unsägliches dabei. Ich spreche mit der Vernarbten. Sie raucht Kette und weiß mehr, als sie zugibt. „Wenn Sie so weitermachen“, sagt jemand, der offenbar mein Vorgesetzter ist, „dann – was ist das? Was geht hier vor?“ – „Es wird umgeblättert“, würde ich ihm gerne sagen, kann es aber nicht, denn es ist nicht vorgesehen, und wieder sitze ich mit meinem Partner auf dem Pier. Er hat Eheprobleme und redet und redet und wieder fahren wir zu einem Einsatz. Wieder Verhöre. Wieder stehe ich unter der Dusche. Wasser ist das Gegenteil von umblättern. Und wieder sitze ich an der Bar und sehe mich nach Frischfleisch um, nun ja … nun wird alles langsam, nun schläft mein Leben regelrecht ein – verstehen Sie? –, nun kommt, während ich eine weitere Kellnerin ins Motelzimmer mitnehme, Ruhe, kommt endlich die lang ersehnte Ruhe, und wir vögeln und das Gleißen bleibt aus, und ich muss weitervögeln, darf nicht aufhören, diese Frau, die ich nicht kenne und nicht kennen will, zu ficken, denn sobald ich aufhöre, füllt das Gleißen das Zimmer, dieses Gleißen, das mir für einen kurzen Moment der Offenbarung die Details zeigt, die Fliegenscheiße auf den Säbeln des Ventilators, die Brandmale auf der Überdecke, die überschminkten Mitesser auf den Nasenflügeln der Frau, den Titel des Buchs auf dem Nachttisch – und schon wird wieder umgeblättert.

      IN DUNKLEN BRAUNTÖNEN

      Um den Schülern die Lebensbedingungen der Arbeiterschaft während der Industrialisierung zu verdeutlichen, erzähle ich gerne von den Schlafgängern, also denjenigen Menschen, die ein Bett für die Stunden mieteten, in denen der eigentliche Bettbesitzer arbeiten ging. Der eine hat Tagschicht, der andere hat Nachtschicht und das Bett ist somit immer belegt, immer warm. Gerne würde ich folgenden Film sehen. Ein Arbeiter vermietet das Bett in seiner Kammer an einen Schlafgänger. Eines Abends kommt er nach Hause und sein Bettmieter macht keine Anstalten aufzustehen. Der Arbeiter trinkt einen Krug Bier, den er sich aus der Wirtschaft mitgebracht hat, zieht den Mantel aus und kriecht zu dem anderen ins Bett. „Mach mal Platz!“, sagt er ruppig oder: „Rück mal ein Stück!“ Als er am nächsten Tag von der Arbeit kommt und erschöpft sein Bier in der dunklen Kammer trinkt, wird ihm bewusst, dass der Schlafgänger noch immer im Bett liegt. Er rutscht nicht zur Seite, als der Arbeiter zu ihm ins Bett kriecht und bewegt sich die ganze Nacht über nicht. Erst in den Morgenstunden kommt dem Arbeiter der Verdacht, dass der Schlafgänger gestorben ist. Erwähnte ich bereits, dass es Winter ist? Dass das Fenster blind von Eisblumen ist? Der Arbeiter pustet sich in die Hände, wirft den Mantel über und verlässt die Wohnung. Nun müsste erklärt werden, wieso er nichts tut, mit niemandem spricht, auch nicht mit der Zimmerwirtin, sondern sich Nacht für Nacht zu dem verwesenden Leichnam ins Bett legt. Tut er es aus Faulheit? Aus Trägheit? Weil er längst aufgegeben hat? Jedenfalls kriecht er Nacht für Nacht in ein Bett, das sich längst in einen Morast der Fäulnis verwandelt hat, in eine von Maden wimmelnde dickflüssige Soße, die auf den Boden schwappt, wenn man sich umdreht, und Fäden zieht, wenn man sie versehentlich mit der Hand oder der Wange berührt, eine puddingartige Substanz, die sich kaum mit dem Krug aus dem Bett schöpfen lässt. Der Film müsste Überlänge