Meine Mutter ist im Alentejo bei einer Cousine, erklärte er, und was soll ich an solch einem tristen Tag allein zu Hause. Ich gehe lieber hierher und räume ein wenig das Büro auf. Viel hatte er allerdings bei seinen Aufräumungsarbeiten noch nicht zuwege gebracht. In dem, was er Büro nannte, herrschte nach wie vor eine apokalyptische Unordnung aus Rechnungszetteln, Reinigungsmitteln für Saul, ein paar Zahnpasta-Tuben und Rasierwasserfläschchen, die schon einige Jahre dort verstaubten. Kruse überlegte kurz, ob er auf einen Kaffee bei João verweilen sollte. Vielleicht war es ihm ja auch ein wenig langweilig. Das Hotel war kaum belegt, beziehungsweise die wenigen Gäste, die es bevölkerten, waren heute ans Meer gereist genau wie der Rest der Stadt. Aber wahrscheinlich wollte João seine Ruhe haben, wenigstens die Bleistifte anspitzen oder im Fernsehen die Übertragung eines Autorennens anschauen. Man würde ihn nur stören. Schon längst hätte Kruse ihn auf eine Macieira einladen können, aber er glaubte, dass João niemals öffentlich trank, jedenfalls tat er dies nicht mit Hotelgästen. Also erbat er sich lediglich eine Flasche Wasser und erzählte, dass er den Tag unter einem schattenspendenden Baum in Sant’Ana zu verbringen gedenke. Diese Auskunft grenzte schon fast an eine Indiskretion. João rückte umständlich einige Koffer beiseite, die jene Gäste dort abgestellt hatten, die am Abend nach England zurückreisten und noch einen Tag in der Stadt verbrachten. Diese geräuschvolle und in dem engen Büro wirklich komplizierte Tätigkeit umständlich beendend, griff João nach einer Batterie Wasserflaschen, löste die Plastikverpackung und reichte zwei von den Flaschen herüber.
***
Kannst mitkommen, entschied Vince. Es klang etwas plötzlich und überraschend.
Wohin eigentlich?
Das genau war das Problem. Vince hatte nicht die geringste Ahnung, wohin sie gehen sollten. Die letzten Tage hatte er geradezu luxuriös gewohnt in einer komplett eingerichteten Wohnung in der Calle de Argumosa, nahe der Kirche San Lorenzo. Es war die Wohnung der Großeltern seines Freundes Moritz. Moritz war der einzige Mensch, der wusste, in welche Richtung es Vince verschlagen hatte. Heimlich hatten sie einen Schlüssel der großelterlichen Wohnung nachmachen lassen, den Vince mitnehmen konnte. Moritz hatte ihm eingeschärft, spätestens am 23. Dezember zu verschwinden, da würde die ganze Familie samt Großeltern zurückkehren wegen Weihnachten und Silvester. Er, Moritz, müsse auch mit. Aber bis dahin stünde die Wohnung leer. Vince hatte heute Morgen das Geschirr abgewaschen, den einen zersprungenen Teller in einer Mülltonne verschwinden lassen, alle Spuren seines Aufenthalts getilgt und die Wohnung verschlossen. Jetzt stand er da und wusste nicht, wohin in dieser Stadt. Dazu hatte er nun Julia an den Hacken, die wer weiß woher kam und nirgends hinzugehören schien. Und die ihm auch nicht weiterhelfen konnte.
Hast du Geld? Immerhin besaß sie Sinn für das Praktische.
Jedenfalls nicht genug. Nicht genug, um abzuhauen, präzisierte er.
Um abzuhauen, braucht man doch kein Geld.
Ach ja? Und wie macht man das? Hast du denn Geld?
Nicht viel.
Sie zählte ein paar Münzen und kleine Geldscheine aus ihrer Jackentasche.
Wir können uns ja welches besorgen.
Und wie?
Die Geschäfte sind noch offen, die Leute kaufen auf den letzten Ritt Geschenke, da achtet keiner mehr drauf, wohin er seine Brieftasche steckt.
Aber wir achten drauf, meinst du!
Genau.
Und dann?
Dann kaufen wir uns eine Fahrkarte, irgendwohin, wo es nicht so kalt ist, weiter nach Süden oder so. Wir nehmen einfach einen Zug heute Abend, dann wissen wir wenigstens, wo wir die Nacht über bleiben können.
Klingt gut. Vince blieb nicht mehr übrig, als dem Plan Julias eine gewisse Genialität zuzubilligen. Außerdem klang er nicht nur verlockend, sondern auch noch geradezu fantastisch simpel. Diese Verbindung ist selten, fand er.
Und was ist jetzt mit der Sache, die du noch organisieren wolltest?
Vergiss es. War nur so eine Idee.
Sie gingen die Calle de Zorilla zurück, die Vince vorhin nach seinem Steinwurf so atemlos heruntergerannt war. Gingen durch albern weihnachtlich geschmückte Straßen voller hektischer Leute, allesamt schwer bepackt mit Kartons, die in buntes Papier eingeschlagen waren, versehen mit propellergroßen Schleifen. Akazienbäume und Palmen, die mit Nikoläusen behängt waren. Julia und Vince entschieden, in ein großes Kaufhaus zu gehen, dort würden sie eher zum Ziel kommen als in einem kleinen Laden. Sie verabredeten sich. Julia solle jeweils einen der schwitzenden bepackten Weihnachtseinkäufer ansprechen, ihn um eine Auskunft oder die Uhrzeit bitten, während Vince von hinten in die Manteltasche griff und sich die Brieftasche schnappte. Natürlich suchten sie ihre Opfer vorher aus, wussten, wer einen günstigen Fang zu machen versprach; wussten, wo sie zuschlagen konnten. Dabei mussten sie ständig auf der Hut sein vor Kaufhausdetektiven oder anderen Passanten, die sie hätten beobachten können. Dass es so schnell und reibungslos funktionieren