Ich hatte von 0.00 Uhr bis 4.00 Uhr Wachdienst. Die Oktobernacht war lau, der Wind säuselte im Laub der Bäume. In der Ferne lärmten die Zecher vorm Dorfkrug und kreischten die Mädchen.
Wer kam gegen 1.00 Uhr, als der Lärm schon etwas abgeebbt war, von Bier und Schnaps schwankend, mit einer Dörflerin im Arm, heran? Es war der Ultn. „Mölli“. Ich hatte die Kalaschnikow in der Hüfte in Anschlag, der Trageriemen spannte sich straff über der Schulter. Mölli steuerte auf den ersten unserer LKWs zu. Ich sagte laut: „Halt, wer da?!“
„Kanonier Müller, machen Sie sich aus dem Weg!“, schnauzte Mölli. „Sie sind betrunken, Genosse Unterleutnant“, sagte ich in moderatem Ton und blieb stehen. „Aus dem Weg, sag’ ich!“, geiferte Mölli mit einem Griff zur Pistolentasche. Ich hatte bei der Eskalation des Dialogs mit Mölli die Knarre schon entsichert, nun rasselte ich mit dem Ladehebel. Das wiederum ist ein so bedrohliches Geräusch, dass selbst kühne Revolutionäre schon zur Besinnung gekommen sind.
Mölli nahm sofort die Hand von der Pistole, wurde ganz klein und verhandlungsbereit, stotterte Unverständliches. Ich ging bis auf Flüsterdistanz auf ihn zu und sagte leise: „Genosse Unterleutnant, von mir aus fahren Sie los, ich will Ihnen den Abend nicht verderben, aber Sie wissen ja, Befehl ist Befehl, und ein Wachtvergehen führt schnell nach Torgelow, Sie drohen ja ständig damit.“ Sodann ging ich beiseite. Mölli und seine verängstigte Braut kletterten in das Führerhaus des H5 (Vorläufer des sowjetischen Militär-LKWs Ural); er fand mühselig das Zündschloss, dann fuhr er los.
Nach kurzer Zeit, kaum eine halbe Stunde war vergangen, da war Mölli mit dem H5 wieder da. Der Suff, oder der Schreck, den ich ihm eingejagt hatte, ließen bei ihm ein intensives Schäferstündchen wohl nicht zu. Mölli kam ängstlich auf mich zu, fragte furchtsam: „Haben Sie die Waffe schon wieder entladen? Wenn das Magazin beim Wachwechsel nicht vollzählig ist, haben wir ein Vorkommnis in der Batterie, da wird vielleicht sogar der Einsatz in Bodin abgebrochen.“ Das aber wollten wir beide nicht. Ich sagte leutselig: „Genosse Unterleutnant, ich bin doch ein Virtuose auf dieser Balalaika, hatte nicht ganz durchgezogen, als Sie zur Pistole griffen und gleich wieder losließen.“
Mölli salutierte und sprach: „Na dann ist es ja gut. Gute Nacht, und vergessen Sie’s!“ Er verschwand, kaum noch torkelnd, in seiner Barackenunterkunft.
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Wieder auf dem Feld, ereilte uns wenige Tage später die Nachricht vom Sturz Chrustschows. Wir waren sehr erstaunt, begriffen jedoch nicht die Dramatik der Ereignisse im Kreml, hatten auch anderes zu tun. Die Mädels waren uns zugetan, und Gisela freute sich ganz besonders, als ich, mit einem Abend Unterbrechung, wieder zum Tête-à-tête in unserem vertrauten Heuschober eintraf.
Da mir Bruni, die nun schon im siebten Monat schwanger war, auf meine sehnsuchtsvollen Liebesbeteuerungen nichts Besseres mitzuteilen wusste, als dass sie sich mit einem Jugendfreund, den sie wiedergetroffen hatte, zusammengetan habe und ich sie nicht mehr besuchen solle, betrachtete ich Gisela in Groß Lunow in noch günstigerem Lichte. Sie war in meinem tristen Zwangsrekrutendasein ein strahlender Stern der Sinnlichkeit. Aber Gisela war wie alle Weiber, treibt sich mit mir 14 Tage lang in der Fremde im Heu herum, wälzt sich von einem Orgasmus in den nächsten, teilt mir Wochen auf meine Rendezvousgesuche lapidar mit, sie habe sich wieder mit ihrem Mann versöhnt.
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Bei der NVA gab es damals 21 Tage Urlaub während der ersten 18 Monate Grundwehrdienst. Diese sollten alle sechs Monate zu je sieben Tagen genommen werden. Für brave Soldaten gab es noch jede Menge Sonderurlaube und Ausgänge über Nacht und Wochenendurlaube, jedoch immer in dieser schrecklichen Ausgehuniform. In der dritten Oktoberdekade bekam ich meinen Halbjahresurlaub von sieben Tagen.
Ich nahm am ersten Urlaubstag den Mittagszug (die anderen Urlauber waren schon am Vortag nach Dienstschluss gegen 20.00 Uhr gefahren), weil der um 22.06 Uhr in Dresden ankommen würde und ich mich dann, ungesehen von den Dresdnern, durch den Großen Garten in die Winterbergstraße schleichen konnte.
Zu Hause – sofort die Uniform vom Leibe gerissen und zivile Klamotten aus dem Schrank geholt. Das war zwar verboten, da es aber alle so taten, war es kaum zu kontrollieren und ergo auch nicht zu verfolgen.
Natürlich besuchte ich am nächsten Tag sofort Bruni auf ihrer Arbeitsstelle, wo sie die letzten Tage noch im Büro tätig war. Sie hatte aber eine Lebensentscheidung getroffen; alle meine Beteuerungen verfehlten ihre Wirkung. Ich brachte sie noch nach Hause, in das bescheidene Häuschen ihrer Eltern. Viele Frauen werden in der Schwangerschaft unförmig, anders Bruni, sie wurde immer schöner – wie eine Madonna.
Letztmalig umarmten wir uns und vergossen zwei oder drei Tränen.
Um nicht in Gruna gesehen zu werden, trieb ich mich in den nächsten fünf Tagen in der Umgebung Dresdens herum oder ging an der Peripherie der Stadt ins Kino. Vater hatte nämlich jedem, der nach mir fragte, gesagt: „Der sitzt.“ Im Knast sitzen galt bei vielen Arbeitern, von denen einige schon zwei Kriege miterlebt hatten, als ehrenvoller denn in dieser Armee zu dienen.
Am Sonntagmorgen vor 4.00 Uhr schlich ich mich wieder in meiner NVA-Uniform aus dem Haus, die Winterbergstraße entlang, durch den Großen Garten und nahm den ersten Zug in Richtung Norden. Als ich am späten Nachmittag in der Kaserne eintraf, herrschte Staunen am Kontrollpunkt; die anderen erschienen erst am nächsten Tag gegen 7.00 Uhr zum Dienstantritt.
Regimentsbibliothekar
Der trübe November war nun da, die Neuen, „Spritzer“ genannt, trafen in der Kaserne ein. Der Stumpfsinn sollte für mich noch ein ganzes Jahr währen. Ich besuchte daher oft die Regimentsbibliothek, die neben Agitationsliteratur in Sachbuch- und belletristischer Form auch eine Fülle von Klassikern, in- und ausländische Autoren in ihren Regalen stehen hatte. Ebenfalls standen Lexika und Sachbücher militärischen, naturwissenschaftlichen und künstlerischen Inhalts dort zur Einsicht und Ausleihe bereit.
Eines Tages, Anfang November, sprach mich der Politoffizier des AR 9 ebendort an: „Genosse Kanonier, ich sehe Sie oft hier, trauen Sie sich zu, die Bibliothek zu leiten?“ – „Natürlich kann ich das!“ Er griff ins Regal und holte ein Buch heraus mit dem Titel „Der Tod heißt Engelchen.“ Er fragte: „Haben Sie das gelesen?“ Ich sagte: „Ja, natürlich!“ „Es heißt: Ja, Genosse Oberstleutnant!“, verbesserte er mich. Ich hatte das Machwerk freilich nicht gelesen, aber die Verfilmung gesehen. Dann ließ er mich eine knappe Inhaltsangabe machen und sprach: „Gut, ich werde mit Ihrem Batteriechef reden, wenn der nichts dagegen hat, sind Sie ab übermorgen hier Regimentsbibliothekar!“
Die meisten Soldaten hielten es nicht für möglich, doch der Stabschef, Major Kaspar, hatte sich mit seiner unförmigen Gattin, die sonst hier Bibliothekarin war, geschlechtlich vereinigt und sie dabei geschwängert, so dass sie für die nächste Zeit pausieren musste.
Zwei Tage später schritt ich nach Frühsport und Frühstück in die Regimentsbibliothek. Hier übergab mir die Gattin des Stabschefs die Schlüssel für die Räume; ich übernahm die Leser- und die Bücherkartei sowie eine Kiste mit den geheimen Gefechts-Dienstvorschriften, die ich bei jedem Gefechtsalarm zum Führungsfahrzeug des Regiments zu tragen hatte. Deren Verwahrung und Übergabe bei Alarm war nun meine einzige militärische Aufgabe.
Vergeblich versuchte ich an der Frau des Majors die Schwangerschaft zu entdecken, musste einfach glauben, was mir gesagt worden war. Den gesegneten Leib, mit dem Bruni mein Kind unter dem Herzen trug, vermisste ich bei der Stabschefsgattin gänzlich.
Nachdem ich die Leser-Karteikästen in eine alphabetische Ordnung gebracht hatte, worüber der Vormittag vergangen war, kamen zur Mittagspause die ersten Leser, brachten Bücher zurück und wählten neue aus. Hin und wieder holte ein Leser meinen Rat ein. Nach Dienstschluss füllte sich der Raum, so dass ich richtig zu tun bekam.
Zwischendurch machte ich mich daran, die zahllosen noch nicht erfassten Bücher, die meine Vorgängerin noch nicht einmal ausgepackt hatte, und die in hohen Stapeln in einem Nebenraum lagerten, aufzunehmen