Am See gähnt herrschende Leere. Nicht einmal niemand ist da. Scheinbar, weil es noch vor Mittag ist und alle anderen einen Alltag haben. Und wer freihat, ist nicht in Freibach, sondern weg.
Wir schlüpfen aus den Sachen und rennen in das kühle Wasser. Es spritzt uns an, wir tauchen ab. Tine zieht mich zu sich heran und gibt mir einen U-Boot-Kuss. Als ich wieder auftauche, spuckt sie mir einen großen Teil vom See ins Gesicht und lacht. Dann haschen und bewellen wir uns, bis ihr die Arme schwer werden. „Ich will ja keinen Muskelkater haben“, erklärt sie, als sie in Richtung Ufer rudert. Eine Gänsehaut und blaue Lippen hat sie schon, trotz der Hitze, weshalb sie zurück zum Handtuch möchte. Außerdem interessiert sie sich für die kranken Bekannten in dem neuen Magazin.
Ich drehe meine Kreise, tauche nach glitschigen Steinen – und manchmal bin ich mir sicher, dass das keine Algen sind, die mir um die Knöchel streifen. Wenn man nur wüsste, wie man so einen Fisch richtig ausnimmt und ob ihn Tine überhaupt essen würde … Weil es aber im Wasser ohne sie bald ziemlich alleinsam ist, tauche ich noch ein paar Mal ab und klettere dann auch aus dem See, um mich brav neben Tine zu legen.
Eincremen, lachen, kitzeln und ein gekichertes „Lass das“: Daraus besteht unsere aktuelle Haut- und Beziehungspflege. Dann feuert die Sonne eine schläfrige Stille zu unseren beiden Handtüchern runter, auf denen wir etwas halbschattig liegen. Nichts passiert. Ich habe die Augen geschlossen, die Sonnenstrahlen betasten meinen nackten Rücken. Manchmal schlägt Tine eine Seite ihres Magazins um und löst damit jedes Mal einen Urknall in dieser zirpenden Graslandschaft aus. Wir halten uns aus, das ist schön. Selbst wenn wir nichts sagen, spüren wir uns, ohne dass es stört. Wir schaffen das mit uns, wir sind ja schon groß und werden bald erwachsen. Gott, bin ich heute romantisch angeknackst! Um mich wieder in Schuss zu bringen, denke ich gleich mal ein bisschen an das Institut, mein geliebtes Büro Nummer 305, den Schimmel im Keller, die kaltschnäuzige Sekretärin – und heute kann mich das alles mal aus der Ferne grüßen.
Die Wiese sieht milchig und wie überbelichtet aus, als ich die Augen vorsichtig öffne. Da hätte ich mich wohl nicht auf den Rücken drehen sollen, mein Bauch wird eh nie braun. Stattdessen bleichen die Augen aus. Die Zeit hat uns einfach liegen gelassen und ist schon mal etwas weitergegangen. Wie weit genau, ist schwer zu schätzen, die Sonne steht immer noch da ganz weit oben und lacht sich eins. Also kein Halbschatten mehr, dafür eine sengende Affenhitze. Tine ist eingeschlafen oder döst, das lässt sich leicht feststellen. Ich zupfe eine Gänseblume aus dem Rasen und verpflanze sie kunstvoll in Tines blonden Wuschelschopf. Nichts passiert. Eine und zwei Blumen und noch einige später sieht Tine wie meine Privatwiese aus. Weil sie immer noch nicht mit mir spielen will und lieber schlummert, muss ich ihre Nase mit einem Grashalm abreiben. Tine rümpft, knurrt leise und dreht sich. Jetzt muss ich sie ganz wecken, damit ich sie später weiterärgern kann. Ich kuschle mich an sie heran, ohne dass sie es merkt, und küsse ihr Ohr. Nur mit den Lippen, mit ganz wenig Berührung. Und ohne Reinatmen, sonst krieg ich eine auf den Deckel wegen ihrem Tinnitus.
Immerhin zieht sich ihr Nacken leicht zusammen. Aha, das kitzelt also. Weitermachen, aber woanders. Meine Finger tippeln über ihren Rücken, langsam und federleicht. Keine Reaktion. Da will wohl jemand mit aller Macht seinen Mittagsschlaf halten. Mein Mittelfinger ist schon fast an diesem einen Bändchen vorbei, da hält ihn der Zeigefinger zurück. Du, warte mal, raunt er und begutachtet das Bändchen etwas genauer. Was könnte das wohl sein? Der Mittelfinger sagt, lass es lieber, das bringt nur Ärger. Aber der Zeigefinger, dieser Schelm, ist neugierig und überredet den Daumen, an der Bändchenschleife zu rütteln. Das macht die Tine wach!
„Was wird’n das?“, fragt sie und prüft mit einem verbogenen Arm den Halt ihres Bikinis. „Ich dachte, wir hatten uns darauf geeinigt, dass du keine Ahnung von so was aufmachen hast.“ Ich will noch nicht aufhören und sehe sie mit kleinem Schmollmund an, während meine Hand ihren Rücken streichelt. „Na gut“, seufzt Tine und grinst. „Wenn du einen Kuss haben willst, dann hol ihn dir hier unten ab. Aber ich stehe dafür nicht auf.“ Zu Befehl! Ich lege mich neben sie und küsse ihre warmen Lippen. Ich denke an das bisschen Schilf am See, aber da ist das Ufer so glitschig und nass. Dann lieber zu den Bäumen dort! Plötzlich bekommt das efeuumrankte Unterholz eine ganz erotische Bedeutung. Aber Tine möchte ja gar nicht aufstehen, auch nach dem Küssen nicht, und auch nicht, obwohl ich ihr das mit dem Unterholz erklärt habe. Die Sonne hat sie vollkommen schlapp gemacht und so richtig in Fahrt kommt sie erst, als ich sie aufhebe und ins Wasser schmeiße.
Der verschlafene Gesichtsausdruck ist weg, die alte Tine wieder da. „Du olle Pappnase!“, flucht sie und entsteigt als Venus von Freibach den Fluten. Dass sie mich nicht ins Wasser kriegt, ärgert sie. Dafür meckert sie auf dem Heimweg bis zu dem Lebensmittelladen wie ein Rohrspatz und gibt mir Klapser auf den Hintern, damit alle Freibacher hinter ihren Gardinen hören, was für ein ungezogenes Kindchen ich bin, wie sie sagt.
Mit dem Rückweg ist das ja so eine Sache. Eigentlich sollte er ja kürzer sein als der Hinweg, aber manchmal hält er sich einfach nicht daran. Da verbündet er sich mit dem Einkauf in den Rucksäcken und mit den schweren Füßen und der bleiernen Hitze. Die Luft wird erst dünn, dann flackert sie, dann geht sie aus. Tine japst und ist selbst zum Nörgeln zu fertig. Der Wald kühlt uns die Erlösung. Zwei Pausen haben wir bis zum Haus zurück gebraucht, an der Gartenpforte tritt Tine in den Sitzstreik. „Wenn du mich heiraten willst, dann huck mich iwwer de Schwelle, Kindchen“, schnauft sie und plumpst nach hinten ins Gras. Was bleibt mir übrig, als die Rucksäcke in das Haus zu tragen. Auspacken können wir auch später, jetzt muss erst mal die Tine wieder aufgepäppelt werden. Also bewaffne ich mich mit ein paar Äpfeln, Schokolade, Wasser medium und einer Decke aus dem Wohnzimmer und trottele dann zur Tine zurück. Die guckt neugierig aus dem Wildwuchs hoch. „Nicht heiraten?“, fragt sie überrascht, weil es nicht auf die Terrasse geht.
„Nicht im Urlaub“, erkläre ich diplomatisch und breite die Decke auf der Wiese vor dem Gartenzaun aus, zwischen Moos und Grashalmen. Dann baggere ich Tine an, um sie auf die Decke zu verfrachten. Schöner Halbschatten, dazu saftige Äpfel, Schokolade und sonst nichts. Ein kleines Lüftchen geht durch das Gras, maximal einen viertel Meter hoch. Die Äpfel restaurieren uns langsam. Tine hat schon wieder Kraft, um zu gucken, ob sie von dem Mittagsschläfchen braun geworden ist. Mit der Sonne und ihrer Haut ganz zufrieden, hockt sie sich plötzlich neben mir auf.
„Jetzt will ich was spielen“, sagt sie.
„Canasta?“, frage ich und hoffe dabei was anderes.
„Nee, das olle Schachspiel da von aus das Regal neben die Bücher“, macht Tine belehrend, weil sie weiß, dass mich das immer etwas auskühlt, wenn sie sich sprachlich so viel Mühe gibt. Und schon ist sie auf und davon, kommt mit dem Spiel wieder und baut die Figuren zwischen uns auf.
Nach zwei Runden schraubt sich Tine Locken in die Strähnen, weil sie verliert und dringend einen moralischen Halt braucht. Der König sieht der Königin aber auch verdammt ähnlich! Normalerweise hat sie nichts dagegen, schachmatt gesetzt zu werden, aber beim zweiten Mal ist es äußerst knapp und sie flucht wie ein Kesselflicker und setzt mir statt einer Pistole ihren nackten Fuß auf die Brust. „Du bist ein ganz mieser Typ“, sagt sie, als ich den letzten Zug mache, und drückt das Bein durch. Ich lande im Gras, muss mich gegen die hinterherhuschende Tine notwehren und so kullern wir bald über die Decke und drüber hinaus. Weil das trockene Gras Tines Bikinihaut pikst, gibt sie sich schnell geschlagen und fordert eine ultimative Revanche.
Also spielen wir weiter, Tine nascht mit jeder verlorenen Figur verzweifelter Schokolade. Ich versuche, sie gewinnen zu lassen, was sie aber schnell durchschaut und mich deshalb disqualifiziert. „Das ist wettbewerblicher Unlaut!“, tönt sie groß und springt auf. „Deine sämtlichen Siege werden dir von Rechts wegen aberkannt. Also hab ich gewonnen. Das hast du von deinem Schummeln.“
„Okay“, räume ich ein. „Und welchen Preis hast du gewonnen?“ „Einen Haushälter!“, meint sie spontan. „Der mir beim Abendbrot hilft.“
„Nicht schlecht, oder?“
Tine überlegt noch. Da ziehe ich sie zu mir herab und küsse ihren Schokomund, um sie zu überzeugen. Und das wirkt.