Fahlmann. Christopher Ecker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christopher Ecker
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783954620906
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Bügelfalten, korrekte Manieren, glatter, pomadisierter Scheitel, Rabattmarken, der Schnurrbart dicht über der nervös zuckenden Oberlippe gestutzt. Er war jemand, der aus heiterem Himmel beschließen konnte, die Gewürze alphabetisch zu ordnen. Ich erinnere mich gut an die erbitterten Diskussionen, die der Umsetzung dieses Plans vorausgingen. Vater plädierte nämlich dafür, Jodsalz unter J einzusortieren und Chilischoten unter C, was ich (ich war damals neun oder zehn Jahre alt) für ausgemachten Blödsinn hielt. Jodsalz müsse man unter S wie Salz einordnen, argumentierte ich schlüssig, und Chilischoten gehörten zu P wie Pfeffer.

      «Nein, nein, nein!», sagte Vater leise und zupfte sich einen unsichtbaren Fussel vom Jackett.

      «Oberbegriffe, Armin!», sagte Mutter und ließ das Buch sinken. «Es geht um Oberbegriffe. Der Junge hat vollkommen recht!»

      Nach ihrer überraschenden Einmischung stand es 2 : 1 gegen Vater, doch er gab nicht auf. Er gab nie auf, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. «Nehmen wir mal an, ihr sucht das Jodsalz. Sucht ihr es dann unter S? Hieße das Jodsalz Sodsalz, müsste ich euch recht geben. Kein Problem. Aber Jodsalz heißt nun mal Jodsalz. Dafür kann ich nichts!» Sein Seufzer zollte den ungeheuren Leiden all derer Tribut, die sich in großherziger Selbstaufopferung bemühen, unsere unvollkommene Welt ein wenig vollkommener und übersichtlicher zu machen. «Wieso wollt ihr mich nicht verstehen? Wenn man Chilischoten sucht, sieht man dann bei den P-Gewürzen nach oder», seine Stimme wechselte die Tonlage und drang in listige Gefilde vor, «nicht etwa bei den C-Gewürzen?»

      «Aber wir wissen doch, wo alles steht», warf ich ein.

      «Nein, mein Junge», sagte Vater im Tonfall resignierten Tadels, den Blick auf die Spitzen seiner Lackschuhe gesenkt, «so leicht dürfen wir es uns nie machen.»

      Vater hat es sich im Leben nie leicht gemacht. Bei Spaziergängen las er Bonbonpapierchen und Zigarettenkippen auf, und sah er irgendwo die Ankündigung einer Veranstaltung, die bereits stattgefunden hatte, riss er den Anschlag mit einem Ausdruck ungläubigen Zorns von der Plakatwand. Als er starb, war ich erwachsen und stand am Fenster meiner eigenen Küche, wo die Gewürze weder sortiert waren noch sich überhaupt auf einem Gewürzbord befanden. Ich hielt eine große Tasse Kaffee in der Hand, pustete hin und wieder auf die schwarz spiegelnde Oberfläche und war zu faul, mich mit Susanne zu unterhalten, die hinter mir mit der Zeitung raschelte. Ich sah hinab in den Hof. Genauer. Ich muss mich genauer erinnern, auch wenn es schwer fällt. Meine Konzentration ist heute nicht die beste. Unsere Küche befand sich im ersten Stock, eine Etage und mehrere Jahre über den Jodsalz- und Chilischotendiskussionen meiner Kindheit. Meine Eltern bewohnten zwar noch immer das Erdgeschoss, aber ich war inzwischen mit meiner eigenen dreiköpfigen Familie, deren jüngstes Mitglied sich um diese Uhrzeit im Kindergarten aufhielt, in den ersten Stock gezogen, den Vater, bis ich – übrigens keine Spur reumütig – in mein Elternhaus zurückgekehrt war, an die Familie Bahlow vermietet hatte. Das klingt verwirrend. Mehr dazu später, wenn ich es nicht vergesse.

      Am Küchenfenster bot sich mir die Aussicht auf die schmutzig-graue Ostwand des Gebäudes, das in einer Entfernung von gut zehn Metern den Hof begrenzte und die Einnahmequelle unserer Familie beherbergte. Das schwarze Schild mit den Goldlettern war allerdings nur von der Straße aus zu sehen: Es überspannte zwei Schaufensterscheiben, hinter denen schwere, bodenlange Vorhänge den Passanten die Sicht ins Gebäudeinnere verwehrten. Die halbherzige Dekoration (einige staubige Urnen, einige staubige Grablaternen) verwies auf die Art des Gewerbes, das hier ausgeübt wurde. Beerdigungsinstitut Gebr. Fahlmann, stand auf dem Schild, und darunter: Erd-, Feuer- und Seebestattungen. Vater hatte das Unternehmen in den späten fünfziger Jahren gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder aufgebaut. Vater kümmerte sich um die Verwaltung, und Onkel Jörg, ein überzeugter Junggeselle, der nicht so zart besaitet war wie sein Bruder, fuhr den Leichenwagen, sargte ein und widmete sich dem kniffligen Handwerk des Präparierens. Bei all diesen Tätigkeiten ging ihm Heinz zur Hand, der ein noch weitaus vierschrötigeres Naturell als mein Onkel besaß.

      Heute erscheint es mir mehr als nur merkwürdig, dass mein empfindlicher Vater auf die Idee gekommen war, Bestattungsunternehmer zu werden. Bei einem Sonntagsspaziergang hatte er sich einmal heftig (fast hätte ich geschrieben: orgiastisch) übergeben, weil er beinahe in einen feucht schillernden Haufen Hundescheiße getreten wäre. «Du bist nicht mal reingetreten!» Mutter konnte es kaum fassen. «Stell dich nicht so an! Wärst du reingetreten …» – «Bitte, Marianne, sei still! Hack nicht länger drauf rum!» Vater lockerte den Kragen, löste den Knoten der Krawatte und wischte sich Schweißperlen von der Oberlippe. «Du machst es nur noch schlimmer! Oh, ich darf gar nicht dran denken, sonst wird mir wieder schlecht.» Diese Begebenheit hat mich vermutlich so stark beeindruckt, weil sich hier das Vaterding in den tadellosen Anzügen, das als ständigen Vorwurf gute Manieren zur Schau stellte, kurzfristig in einen richtigen Menschen verwandelt hatte. Allein die Tatsache, dass sich mein Vater wie ein normaler Mensch übergab und wie alle übrigen Menschen einen – wenn auch übertriebenen – Ekel vor gewissen Dingen empfand, ließ damals in mir eine zarte Hoffnung keimen. Aber in aller Öffentlichkeit auf den Gehweg zu kotzen und seinen Sohn vor dem Zubettgehen in den Arm zu nehmen, sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Doch ich schweife ab. Vom Fenster aus sah ich also nicht das der Straße zugewandte Ladenschild, sondern nur die auf den Hof hinausgehende Eingangstür des Beerdigungsinstituts, auf deren getöntem Riffelglas ein ehemals weißes Papprechteck die Geschäftszeiten verriet. Rechts neben der Tür starrte ein schwarz verhängtes Fenster ins Leere. An das Institut schloss sich das lang gestreckte Lager an, flaches Dach, getönte Scheiben, und daran fügte sich wiederum die den Hof im Norden begrenzende Garage wie der obere Balken eines F’s.

      Unser eigenes Haus war demzufolge, um dieses Bild beizubehalten, ein Punkt, der das bauchbalkenlose, aus einem schmutzig-grauen Beerdigungsinstitut, einem geduckten Lager und einer breiten Garage bestehende F in eine Abkürzung verwandelte. F kürzte natürlich den Namen «Fahlmann» ab, und dass ich diese Beobachtung bereits als Kind gemacht habe, führe ich heute allein auf mein für Anfangsbuchstaben geschultes Auge der Gewürzbordphase zurück. Als mein Vater starb, stand ich also am Küchenfenster, pustete auf den Kaffee, der noch zu heiß war, um einen ersten Schluck zu wagen, und sah, wie Onkel Jörg das Büro verließ. Schwarz gekleidet und erstaunlich früh – er war wie ich ein Spätaufsteher – ging er zum Leichenwagen, der mit der Schnauze das geschlossene Garagentor beschnupperte. Onkel Jörg brüstete sich häufig damit, der einzige Bestattungsunternehmer der Stadt zu sein, der einen Ford Transit fuhr. «Der ideale Leichenwagen! Passen zwei Särge nebeneinander rein. Wir können die ganze Familie mitnehmen, wenn wir die Kinder zusammenklappen und zu den Eltern in die Särge packen», pflegte er zu scherzen, woraufhin Vaters Gesicht einen leichten Grünstich annahm. Für ihn war das Geschäft mit dem Tod eine ernste, aber, und darauf legte er größten Wert, keine wohltätige Sache. «Wir verdienen den Lebensunterhalt mit dem Ableben unserer Mitmenschen. Aber müssen wir deshalb unsere Dienste verschenken?» Vater ließ die Frage eine Weile im Raum schweben, ehe er sie selbst beantwortete, obwohl es inzwischen keinen gab, der die Antwort nicht auswendig wusste: «Nein und nochmals nein! So schlimm der Tod auch sein mag, so traurig für die Angehörigen, so furchtbar, so schrecklich», seine Stimme schwoll an, als wollte er ein Meer teilen, «so wenig haben wir das Recht, mildtätig zu sein. Und warum nicht? Weil wir im Gegensatz zu den Verstorbenen weiterleben müssen. Und zum Weiterleben braucht man Geld!»

      Selbst durch das geschlossene Fenster hörte ich den Schotter unter Onkel Jörgs Schuhsohlen knirschen; hinter mir schenkte Susanne sich geräuschvoll Kaffee nach; unten sperrte Onkel Jörg die Fahrertür des Transits auf und stieg ein, wobei er wahrscheinlich herzzerreißend stöhnte. Tck, tck, der Schlüssel wurde im Zündschloss gedreht, tck-ahrrrm!, ein Rauchwölkchen kroch aus dem Auspuff, Onkel Jörg stieß aber nicht zurück, sondern begann im Wageninneren mit irgendwelchen Papieren und Schachteln zu hantieren. Und genau in diesem Augenblick kommt Vater um die Ecke des Hauses, das Haar so korrekt gescheitelt, dass ich von hier oben die weiße Linie Kopfhaut zwischen den dunkelbraun gefärbten Haarhälften sehen kann. Zielstrebig steuert er quer über den Hof auf die Bürotür zu, ein Mensch, der es eilig hat. Vaters Bewegungen wirkten immer eine Spur zu hektisch; nur wenn er etwas erklärte, mich tadelte oder seine geliebten Nachrichten schaute, wurde er ruhig. Plötzlich bleibt er kerzengerade stehen, bückt sich in einer schwungvollen, federnden Bewegung, und genau in diesem Moment,