Der letzte Überlebende. Sam Pivnik. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sam Pivnik
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783806235265
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dahinschwand. Außerdem hatte ich noch meine Tauben, die unbeeindruckt in Herrn Rojeckis Dachboden gurrten. Für sie, so dachte ich immer, gab es keinen Krieg, keine Ohrfeigen, keine engen Grenzen des Erlaubten und Unerlaubten. Hätte ich realistischer gedacht, dann wäre mir sicher eingefallen, dass es nicht mehr viel Futter für sie gab.

      Nahrung war insgesamt unser Hauptproblem. Nathan und ich waren im Wachstum, Majer ebenfalls. Wir lebten zu zehnt in dem kleinen Haus Nummer 77, und nur vier von uns verdienten ein wenig Geld. Meine Großmutter war zu alt, meine Mutter hatte alle Händevoll mit den kleineren Kindern zu tun. Josek war ja erst drei Jahre alt. Es gab eine Art Schwarzmarkt, es gab Leute, die „jemanden kannten“, und gelegentlich sah man, wie in dunklen Ecken Geld und Lebensmittelpakete verstohlen den Besitzer wechselten. Einige polnische Freunde hatten wir auch noch.

      Damals wussten wir nichts davon, aber die Befehle aus dem Reich, die in Berlin entwickelt wurden, würden Polen in den kommenden Monaten am härtesten treffen. Wenn ein Pole einem Juden half und ihm beispielsweise während der Aktionen – der Deportationen in die Lager – Obdach gewährte, dann wurde dieser Pole mitsamt seiner Familie zum Tode verurteilt. So weit war es 1940 noch nicht, aber die Christen gingen ein Risiko ein. Sie steckten uns Essen zu, wann immer sie konnten, und manchmal brachte das die älteren Mitglieder unserer Familie in unangenehme Situationen. Eines Tages kam ich mit einem Lebensmittelpaket unter der Jacke nach Hause. Es war ein Geschenk der Mutter meines Freundes Dudek und enthielt Würste aus Schweinefleisch. Für mich war das kein großes Problem, ich hatte in den Jahren vor dem Krieg schon oft bei Dudek Schweinefleisch gegessen. Aber für meinen Vater war so etwas undenkbar. Nach allem, was den Juden in Będzin bereits widerfahren war – der Brand der Synagoge, die Schließung der Schulen, die Erhängungen, Verbrennungen und Erschießungen, der Verrat des Judenrats –, musste es doch noch ein paar Prinzipien geben, und mein Vater konnte und wollte nicht von den Lehren abweichen, die zu seinem Leben gehörten. Seine erste Reaktion war, die Wurst wegzuwerfen. Ich erinnere mich nicht, dass meine Eltern darüber gestritten hätten, nicht einmal an eine Diskussion zwischen ihnen. Vielleicht sah mein Vater meiner Mutter nur in die Augen, und was er dort sah, genügte ihm. Sie war eine gute Jüdin, aber ihre Kinder hatten Hunger, und für eine Mutter hatte dieser Gedanke absolute Priorität. Am Ende verließ er das Haus, während wir die Wurst aßen, und so hielten wir es von da an, ohne darüber zu sprechen. Wir aßen in seiner Gegenwart kein Schweinefleisch, und wir sagten ihm auch nicht, wenn wir es hinter seinem Rücken verzehrten. Diesen Preis mussten wir zahlen, nachdem wir nun einmal in die Hände von Wahnsinnigen geraten waren.

      Auf die eine oder andere Weise traf die Besatzung meinen Vater am härtesten. Er war ein stolzer Mann, hielt auf Tradition und war es gewohnt, respektiert zu werden. Jetzt war das alles verloren gegangen. Und es wurde noch schlimmer. Eines Tages kam er nach Hause, zitternd und blutverschmiert. Er war ausgegangen, um Brot zu kaufen, und ein paar Stunden unterwegs gewesen. Zunächst machten wir uns keine Sorgen, wir wussten ja, dass man überall Schlange stehen musste. Man wartete eben, so lange es nötig war. Diesmal jedoch brachte ihn ein Nachbar nach Hause. Er war in der Schlange denunziert worden; einer der gefürchteten Zeigefinger hatte sich auf ihn gerichtet, die von nun an mein Leben bestimmen sollten. Daraufhin hatten ihn mehrere Polizisten herausgezogen. Er war sehr erschüttert – die Verletzungen in seiner Seele müssen größer gewesen sein als das, was wir sehen konnten. Von diesem Tag an ging er nur noch in Rossners Fabrik; Hendla, Nathan und ich übernahmen das Schlangestehen. Und meine Mutter wurde zum Fels in der Brandung und hielt uns alle zusammen. Bei jedem Blick ins Gesicht meines Vaters konnte ich sehen, dass seine Kampfkraft – ja, seine Lebenskraft –, ihn verlassen hatte.

      Die jüngere Generation war entschlossener zurückzuschlagen. Wir Jüngeren waren kräftiger und dümmer, würde ich sagen. So entstand in Będzin im Frühjahr 1940 eine Art Widerstandsgruppe aus Mitgliedern der Jugendorganisationen. Vor dem Einmarsch war ich für diese Organisationen noch zu jung gewesen, und jetzt konnte ich mich ihnen nicht anschließen, weil sie ja illegal waren. Poale Zion, Habonim Dror, Gordonia, Hashomer Hatzair, Hanoar Hatzioni, Hashomer Hadati – ich erinnere mich noch an die Namen, so wie viele junge Deutsche sich vielleicht an die antifaschistischen Edelweißpiraten erinnern. Hendla hatte viel mit Gordonia zu tun, obwohl ihre Träume, nach Palästina auszuwandern, in weite Ferne gerückt waren. Einer meiner Cousins, Hirsh Wandasman, war noch stärker engagiert; Leute wie ihn behielten die Nazis ganz besonders im Auge.

      Das geschah durch Informanten, und an zwei von ihnen erinnere ich mich aus gutem Grund ganz besonders. Einer war ein Gastwirt namens Kornfeld. Er war um die dreißig, denke ich, und bevor der Zwischenfall in der Warteschlange meinen Vater dazu verurteilte, sich nur noch zwischen unserem Haus und der Rossner-Fabrik zu bewegen, besuchte Nathan gelegentlich am Samstagabend diese Gaststätte. Er trank allerdings immer nur Limonade. Kornfelds Schwager war etwas jünger als er und arbeitete als Schuster. Sein Name war Machtinger.

      Eines Abends kam ich von der Arbeit nach Hause und sah Machtinger vor mir, wie er die Modrzejowska hinunterging, gemeinsam mit einem deutschen Polizisten, einem üblen Kerl namens Mitschker, mit dem ich schon einmal aneinandergeraten war. Die beiden benahmen sich, würde man heute wohl sagen, verdächtig und achteten sehr darauf, dass sie nicht beobachtet wurden, wie sie sich durch eine Seitentür in das Haus des Pferdehändlers Piekowski schlichen. Piekowski war einer der reichsten Männer der Stadt. Er war vom Judenrat wegen der Goldsammlung angesprochen worden, hatte sich aber rundweg geweigert. Ein anderer Pferdehändler, Wechselmann, hatte so viel gegeben, wie er konnte.

      Mich interessierte natürlich, was Machtinger und Mitschker in der Erdgeschosswohnung von Piekowskis großem Haus machten. Piekowski selbst bewohnte mit seiner Familie den ersten und zweiten Stock; im Erdgeschoss wohnten die hübschen blonden Töchter in einer eigenen Wohnung. Ich wartete ein oder zwei Minuten – von den Eltern keine Spur. Dann duckte ich mich zwischen ein paar Büsche und schlich ums Haus, wo ich auf Zehenspitzen durch eine Lücke im Vorhang eines Fensters, das zum Garten hinausging, hineinspähen konnte.

      Ich war vierzehn, und was ich sah, war zwar nicht absolut neu für mich, aber erstaunt war ich doch. Auf dem Tisch standen ein paar Bierflaschen, die Lampen brannten. Die jüngere Tochter war etwa achtzehn, also nicht sehr viel älter als ich, aber doch schon in jeder Hinsicht eine Frau. Sie lag splitternackt in lasziver Pose auf dem Sofa. Die ältere rekelte sich auf dem Bett. Sie war ein paar Jahre älter und hatte eine üppigere Figur. Ich stand wie gebannt da. Natürlich hatte ich die Mädchen schon oft gesehen, aber nie ohne Kleider! Mitschker und Machtinger hatten es furchtbar eilig. Sie kämpften beide mit ihren Hemden, traten sich die Stiefel von den Füßen und zerrten an ihren Hosen.

      Ich vermute, dass mir die Zunge aus dem Hals heraushing, auch wenn das hier keine Peepshow war. Die Mädchen hatten keinen Spaß an dem, was hier passierte, so viel war mir klar. Sie machten einfach mit, ihre Gesichter waren wie versteinert. Vermutlich wurden sie erpresst, bezahlten mit ihren Körpern für ein leichteres Leben und dafür, dass die Behörden ein Auge zudrückten. Ich bekam Angst und lief weg.

      Was wäre wenn? Wenn kein Krieg gewesen wäre, wenn Polen nicht besetzt gewesen wäre, wenn ich nichts von dem Verrat gewusst hätte, den Mitschker und Machtinger begingen – vermutlich wäre ich zu Dudek und den anderen gerannt und hätte es genossen, endlich mal im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Wenn ich ihnen alles erzählt hätte, wären sie mit offenen Mündern und weit aufgerissenen Augen um mich herumgestanden, und irgendwann hätten wir sehr viel gekichert. Aber diese Geschichte konnte ich nicht erzählen, die Folgen wären zu schrecklich gewesen. Ein SS-Mann, der mit einer Jüdin schlief, wurde standrechtlich erschossen. Und diese Schurken kannten ja keine Ehre.

      Mitschker bekam einige Zeit später kalte Füße – die Details kenne ich nicht – und ließ seine beiden Informanten fallen wie heiße Kartoffeln. Machtinger und Kornfeld waren unter den ersten, die deportiert wurden. Piekowski, seine Frau und seine Töchter folgten einige Zeit später.

      Ich begriff damals gar nicht wirklich, was passierte. Ich lebte in einer Welt, in der Polizisten Sex mit Mädchen hatten, die sie eigentlich beschützen sollten, und in der der Judenrat, unsere eigenen Leute, auf eine Chance wartete, sich Fleißkärtchen der Nazis zu verdienen und auf eine andere Art mit der SS ins Bett zu steigen.

      Es muss wohl im April 1941 gewesen sein, als die Flüchtlinge