Wenn das überhaupt möglich war, dann liebte Nathan Dombeks Pferde noch mehr als ich. Er kümmerte sich um zwei der Tiere, bis irgendwann ein Wagen an der Steigung zum Bahnhof wegrutschte und ihm über den Fuß fuhr. Außerdem hob er sich wenig später einen Bruch, und damit war es ihm nicht mehr möglich, für Dombek zu arbeiten.
Meine Zeit in der Fabrik war surreal. Es fühlte sich an, als wären wir alle Teile einer Maschine. Wir Juden bekamen natürlich weniger Lohn als die Nicht-Juden, und mit ihrer typischen teutonischen Besessenheit zogen die Deutschen uns auch noch Steuern und Sozialabgaben von unserem Wochenlohn ab. Diese Abzüge stiegen noch, als „Beiträge“ zur sogenannten Winterhilfe eingezogen wurden, eine Sondersteuer, mit der warme Kleidung für die Truppen an der bitterkalten Ostfront finanziert wurde.
Ein wichtiger Faktor meiner Arbeit in der Killov-Fabrik war das Essen – eine Konstante, die immer wichtiger wurde, während sich alles andere um uns herum auflöste. Mittags gab es Suppe oder Eintopf und vor allem eine Dreiviertelstunde Pause. Da ich noch jung war, möglicherweise sogar der jüngste Arbeiter dort, war ich Herrn Häuber aufgefallen, und er entwickelte ein väterliches Interesse an mir. Er ließ mich Besorgungen erledigen, und am Anfang, bevor die Bestimmungen aus Berlin strenger wurden, durfte ich sogar seine kleine Tochter morgens zur Schule bringen. Nathan ging es ähnlich. Die Tochter ging auf die Fürstenbergschule für Nicht-Juden, die auch nach dem Einmarsch der Deutschen noch in Betrieb war. Wenn ich zu Herrn Häuber nach Hause kam – manchmal fuhr ich ihn in der Mittagspause mit seiner zweispännigen Kutsche dorthin –, schenkte mir Frau Häuber etwas Essen für meine Familie. Ich würde jetzt gern behaupten, dass es sich um Marmelade, einen Laib Brot, Wurst, Tee, Zucker oder Butter handelte … aber all das hatte es nur im Garten Eden gegeben, und der gehörte der Vergangenheit an. Trotzdem waren auch Gemüse und Kartoffeln in unserer Situation sehr willkommen. Chana war erst sieben, und Wolf und Josek sogar noch kleiner. Selbst Majer war erst elf Jahre alt, und in einer Stadt, in der Arbeit rar war, konnte er noch nichts dazuverdienen.
Die Fabrik hatte allerdings auch ihre Schattenseiten. Killov und Häuber waren freundlich, aber ihre Untergebenen waren es leider nicht. Der Beamte, der uns jeden Tag hinein- und wieder hinausließ, war ein überzeugter Nazi und verachtete uns zutiefst. Er war ein Widerling mit nur einem Arm, der immer einen antisemitischen Spruch auf den Lippen hatte. Und oft genug zog er uns auch am Ohr, wenn er in der entsprechenden Stimmung war. Niemand beklagte sich, niemand unternahm etwas dagegen, nicht zuletzt, weil die meisten Polen die Anerkennung als Volksdeutsche beantragt hatten. Das war vielleicht am schwersten zu ertragen: Freunde und Nachbarn starrten uns mit kaum verhohlenem Hass an und waren froh, wenn sie nicht mit uns in derselben Werkstatt arbeiten mussten. Als Himmlers üble Rassenpolitik durch Waffen, Hunde und volles Kriegsrecht verschärft wurde, wechselten entsetzlich viele Leute blitzschnell die Seiten.
Außerhalb der Fabrik wurde das Leben täglich schwerer. Läden und Firmen eröffneten in den Wochen nach dem Einmarsch bald wieder, aber jetzt wurden sie natürlich von Deutschen oder zumindest von polnischen Volksdeutschen geleitet, und Juden durften sie gar nicht mehr betreten. Wir waren also auf bestimmte Stadtviertel beschränkt und konnten nur noch in wenigen Läden einkaufen. Dort bildeten sich die unvermeidlichen Schlangen, wie sie zum Symbol des Kriegsalltags in ganz Europa werden sollten. Vor allem Frauen und Kinder standen stundenlang im strömenden Regen oder scharfen Wind, um wenigstens ein bisschen Brot zu ergattern. Gerade deshalb war die Killov-Suppe so lebenswichtig: So bekamen Nathan und ich wenigstens einmal am Tag eine anständige Mahlzeit. Ich wusste, unsere Eltern mussten auf so etwas verzichten, damit wenigstens die Kleinen genug zu essen hatten.
Das Schlangestehen war nicht nur eine Unannehmlichkeit, die aus der kriegsbedingten Lebensmittelrationierung resultierte. Zu dieser Zeit trugen wir noch keine gelben Armbinden, dieses Stigma kam erst später. Und nicht orthodoxe Juden sahen im Prinzip nicht anders aus als alle anderen. Jetzt aber rannten die polnischen Kinder – darunter auch einige ehemalige Freunde von mir – an den Schlangen vorbei, riefen: „Jude! Jude!“, und zeigten mit dem Finger auf uns. Dafür bekamen sie Extraportionen Butter und Marmelade, wie die Silberlinge für den Verräter im christlichen Neuen Testament. Die Polizei, die inzwischen komplett in deutscher Hand war, holte die Juden aus der Schlange, schlug sie und ließ sie oft blutend im Schnee liegen.
Zu Beginn der Besatzungszeit gab es so eine Art Scherz in Będzin: Entweder arbeitete man für Killov oder für Rossner oder man war Mitglied des Judenrats. Etwas anderes gab es nicht. Wie alle anderen Institutionen des NS-Staates waren die Judenräte Marionettenorganisationen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, die Ordnung in der jüdischen Gemeinde zu sichern, Unruhestifter zu melden und dafür zu sorgen, dass wir alle identifiziert und registriert wurden. Mein Vater war kein Mitglied des Judenrats, aber einige seiner Freunde arbeiteten dort mit, und das Büro befand sich gleich neben unserem Haus in der Modrzejowska-Straße, nur ein Stückchen näher beim Marktplatz. An der Tür gab es eine Anschlagtafel mit wichtigen Mitteilungen in jiddischer Sprache, durchweg Übersetzungen von Nazibefehlen, damit jeder Bescheid wusste. Es waren zwar Deutsche, die meinem Vater die Nähmaschine wegnahmen, aber der Judenrat hatte ihnen gesagt, wo sie suchen mussten. Die jüdische Gemeinde in Będzin wurde systematisch geplündert, und die führenden Köpfe dieser Gemeinde machten dabei mit.
Ratsvorsitzender in Ostschlesien war Meniok Meryn, der als Vermittler zwischen dem deutschen Gauleiter und Molczacki fungierte, dem Vorsitzenden des Judenrats in Będzin. Einige Leute hielten Meryn für einen Glücksritter und Kollaborateur, andere glaubten, er würde die Verfolgungen durch die Nazis zumindest hemmen. Molczacki, so lauteten die Gerüchte, durchforstete die Papierkörbe seiner Angestellten, um etwas gegen sie in der Hand zu haben. Ich war noch ein Kind, wie konnte ich wissen, was davon stimmte?
Richtig schlimm wurde es dann im Februar 1940. In diesem Monat kämpften die Russen im frostigen Norden gegen die Finnen, mit Skiern und weißen Tarnanzügen. Natürlich wussten wir nichts davon. Będzin war einer der wenigen Orte in Polen, wo die Nazis noch kein echtes Ghetto eingerichtet hatten, uns ging es also vergleichsweise gut. Trotzdem herrschte eine Art Belagerungszustand in der Stadt. Niemand durfte ohne Erlaubnis der SS die Stadt verlassen oder betreten, und für uns galten noch strengere Bestimmungen. Ich ging zu Fuß zur Fabrik und wieder nach Hause. Von Zeit zu Zeit ging ich zusammen mit Nathan und meiner Großmutter zu den Abraumhalden am Stadtrand, um nach Kohlen zu suchen. Überall waren Polizisten und Wachleute, man hatte den Eindruck, sie suchten nur nach einem Vorwand, um auf uns zu schießen.
In diesem Februar befahlen die Nazis dem Judenrat, er solle mehr als 15 Kilogramm Gold und 60 Kilogramm Silber abliefern, für die die jüdische Gemeinde zu sorgen hätte. Angeblich als Buße für irgendein Verbrechen, das wir begangen hatten. Auf Nachfrage hätten sie zweifellos wieder behauptet, wir hätten Christus ermordet oder das Blut christlicher Kinder für irgendein Ritual benutzt. Aber das war, bevor sie gar keinen Grund mehr brauchten, um uns zu bestrafen. Die Ratsmitglieder liefen durch die Stadt, klopften an Türen und vernagelte Fenster, drangen in unsere Wohnungen ein – obwohl doch unsere Privatsphäre das Einzige war, was uns noch geblieben war. Ich weiß nicht, ob es ihnen gelang, die geforderte Menge aufzubringen und wie viel noch unter Bodendielen und auf Dachböden versteckt wurde. Schließlich würde irgendwann der Tag kommen, an dem die Deutschen wieder gingen.
Skiausrüstungen mussten abgegeben werden, wenn man welche hatte (die Pivniks hatten so etwas nicht), vermutlich für den Krieg gegen die Finnen. Unsere Radios waren schon größtenteils konfisziert; wer noch eins hatte, verlor es jetzt. Dann verboten sie uns das Betreten bestimmter Straßen und öffentlicher Plätze, sodass ein Ghetto ohne Namen entstand. Nathan wurde zum Opfer dieser Bestimmungen. Er wurde in einer Gegend aufgegriffen, die er nicht betreten durfte, weil er versucht hatte, dort illegal Brot zu besorgen. Und so landete er im städtischen Gefängnis. Ich erinnere mich nicht an die Formalitäten, ob er vor einem Gericht oder vor einem SS-Offizier erscheinen musste. Ich erinnere mich nur an die unerträgliche Anspannung zu Hause, als er weg war. Und an die Hilflosigkeit meines Vaters, der nichts dagegen tun konnte. Nathan blieb sechs Wochen im Gefängnis.
Und doch ging das Leben irgendwie weiter. In der Fabrik war es erträglich, tatsächlich freute