Das Gebäude mitsamt den überdachten Wagenabstellplätzen und der dazugehörenden Landwirtschaft war erst vor Kurzem das Eigentum von Friedrik Eberz geworden. Denn der findungsreiche mittlere Sohn von Godefried und Maria Eberz war kaum erwachsen geworden, als er sich von den Eltern sein Erbteil hatte auszahlen lassen. Damit hatte er den gesamten Wirtshaus- und Beherbergungsbetrieb zu einem Spottpreis kaufen können, weil der Vorbesitzer, der das Gebäude vom Kloster gepachtet hatte, auf die Gant gekommen war. Seither führte einer aus dem alteingesessenen Geschlecht der Eberz die älteste Schenke von Isine, die schon vor einhundertzwölf Jahren in Zusammenhang mit einem Tauschgeschäft zwischen dem Kloster und dem Dorf durch Wolfrad Graf von Altshausen neben einer Mühle an das Kloster übergeben worden war und immer schon Salzrodern, Tuchhändlern und anderen Reisenden als Unterkunft gedient hatte. Und weil Friedriks älterer Bruder Cristoff inzwischen Bürgermeister war, hatte es auch keine Probleme gegeben, das neu zu beantragende »Krugrecht« für die Schankstube »Zum Schwanen« zu erhalten.
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»Ihr habt Glück, dass ich noch eine Kammer und einen Stellplatz für euer Fuhrwerk frei habe!«, sagte der geschäftstüchtige Wirt, um den Übernachtungspreis anheben zu können. Den Matteo hoch dünkenden Übernachtungszins begründete der Wirt damit, dass Isine in wenigen Tagen das Lindauer Stadtrecht verliehen werden sollte, weswegen »eigentlich« jetzt schon alle Schlafkammern besetzt seien, »… egal, was sie kosten!«
»Schon gut!«, sagte Matteo. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als schon wieder in freier Natur unter dem Planwagen schlafen zu müssen, wie dies während der Reise meistens der Fall gewesen war.
»Also gut! Gebt mir eine Anzahlung und mein Knecht Jockel versorgt eure Tiere und das Fuhrwerk, während ihr euch am Brunnen im Hof waschen könnt, bevor ihr eure Kammer bezieht!«, lockte der Wirt, um schnell mit Matteo handelseinig zu werden.
Obwohl die beiden Fremden todmüde waren, saßen sie eine Stunde später in der Schankstube und ließen sich das Bier schmecken, das ihnen Resi, die dralle Schankmagd, unaufgefordert hingestellt hatte.
»Was für ein Weib!«, stellte Hannß entzückt fest, nachdem er ihr so ungeniert in den offenherzigen Ausschnitt geguckt hatte, dass er von Matteo einen Fußtritt bekommen hatte. Nach wochenlangen Entbehrungen würde es den Fuhrwerker gelüsten, sich endlich wieder einmal so richtig verwöhnen zu lassen.
Weil Matteo die Gedanken seines neuen Freundes lesen konnte und ihn davon weglenken mochte, fuhr er mit einem forschen »Salute!« dazwischen.
»Salute, mein italienischer Freund!«, entgegnete Hannß, während er den Krug hob und Resi sehnsüchtig hinterherschaute.
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Nach und nach füllte sich die Schankstube, in der dem Anschein nach ausschließlich Bier getrunken wurde, was Matteo Anlass dazu gab, sich zu wundern.
»Bestimmt gibt es hier auch Wein!«, orakelte Hannß, der eigentlich hätte wissen müssen, dass sich das einfache Volk überhaupt keinen Wein leisten konnte. Aber dies machte den beiden nichts aus; Hannß war an Bier gewöhnt und Matteo schmeckte das dunkelbraune Gebräu.
»Weißt du noch, als wir bei der Überquerung der Alpen fast abgestürzt wären, weil eines meiner Rösser wegen einer Kreuzotter gescheut hatte?«, eröffnete Hannß das Gespräch, das sich an diesem Abend hauptsächlich um ihre Reise drehen sollte.
»Ja!«, antwortete Matteo. »Dass du zuvor aber einen Landsmann von mir erwürgt hast, wäre allerdings nicht nötig gewesen, oder?«
»Sag mal, bist du der Narretei verfallen? Diese vier italienischen Straßenräuber wollten uns umbringen und unsere Habe stehlen! Hätte ich mich nicht gewehrt, wären wir jetzt beide nicht mehr am Leben!«
Du hast ja recht, dachte sich Matteo, dem die drei Verletzten und der Tote im Grunde genommen nicht leidtaten. Vielmehr ärgerte es ihn, dass er den Körper des toten Strauchdiebes nicht für seine wissenschaftlichen Untersuchungen hatte verwenden können.
»Noch ein Bier?«, fragte Resi den Salzroder und bedeutete ihm mit einer unverhohlenen Geste, ihm unauffällig nach hinten in den Hof zu folgen. Sie hatte längst bemerkt, dass der kräftig wirkende Mann heiß auf sie war. Und er gefiel ihr.
»Nun geh schon«, flüsterte Matteo seinem Freund in abgehacktem Deutsch zu, bevor er sich mit Händen und Füßen an Resi wandte: »Aber vorher bringst du mir etwas zu essen!«
Inzwischen war es draußen so dunkel geworden, dass der Wirt eiserne Spanhalter mit Holzspänen auf die Tische stellte, die er zuvor in Öl eingelegt hatte, damit sie länger brannten und keine Funken versprühten. »Achtet gut auf das Feuer!«, mahnte er jeden einzelnen der Männer, die an den nunmehr gut beleuchteten Tischen saßen.
Auch darüber wunderte sich Matteo, denn in den italienischen Landen hatte man dafür kleine Tonschälchen, in die Öl gefüllt wurde, das man an einem Docht entzündete, der aus einer kleinen Öffnung herauslugte. Andere Länder, andere Sitten, dachte er über diese Rückständigkeit.
Während der Italiener sich angeregt, wegen des Dialektes aber auch angestrengt mit den Männern unterhielt, die sich in der Abwesenheit seines Freundes zu ihm an den Tisch gesetzt hatten, hörte er den Wirt fluchen: »Wo bleibt dieses faule Luder schon wieder?«
Weil Matteo wusste, weshalb Resi verschwunden war, amüsierte er sich königlich darüber. Aber das Grinsen verging ihm rasch, denn am Nebentisch bahnte sich eine handfeste Rauferei an: Drei Männer gingen schreiend auf einen Kerl los, dessen strohfarbenes Haar zu einem Zopf geflochten war, der ihm fast bis zum Steiß hinunterreichte. Zuerst ergab ein Wort das andere, dann wurde es immer lauter. Schließlich begannen die drei Kontrahenten des langhaarigen Mannes, gemeinsam auf ihn einzuprügeln. Niemand ging dazwischen. Alle schauten nur zu, ohne in den ungleichen Kampf einzugreifen. Also stand Matteo, der zwar gut aussehende, aber nicht gerade überaus kräftig wirkende Italiener, auf und ging zum Nebentisch. »Silenzio! Haltet ein!«, schrie er, so laut er konnte, und fing sich von einem der Männer einen solch harten Faustschlag ins Gesicht ein, dass er besinnungslos zu Boden ging.
»Niemand schlägt meinen Freund ungestraft!«, bellte es plötzlich von hinten, während der erste der drei Männer vom Tisch weggerissen und in eine Ecke des Schankraums geschleudert wurde. Als der zweite aufbegehren wollte, bekam er einen solchen Schlag verpasst, dass er mit seinem Kopf auf die Tischplatte knallte. »Und? Ist noch etwas unklar?«, fragte Hannß, der gerade im rechten Augenblick von seinem Schäferstündchen zurückgekommen war. Dann packte er den dritten Mann am Kragen und schüttelte ihn durch. »Und jetzt raus mit euch! Nimm deine Kameraden mit und verschwinde!«, schrie er noch, bevor er den Langhaarigen fragte, ob alles in Ordnung sei.
Durch die unglaubliche Schnelligkeit, die der eher träge wirkende Salzkutscher gezeigt hatte, war nicht nur das Opfer der drei Männer so verblüfft, dass ihm im Moment nichts einfiel. Erst als die Männer an den anderen Tischen begeistert mit ihren Händen klapperten, merkte der Langhaarige, was eigentlich geschehen war: Ohne das beherzte Einschreiten des schmächtigen Mannes, der immer noch besinnungslos auf dem Boden lag, und das mutige Vorgehen dieses bulligen Kerls, der sich die drei Bier der geflüchteten Männer schnappte, um sie jeweils in einem Zug leer zu trinken, hätte er wohl elende Prügel bezogen.
»Aaah!«, kam es genüsslich aus Hannß heraus. »Nach all der Anstrengung hat das richtig gut getan!« Er beugte sich zu Matteo hinab, um ihn mit Wangentätscheln ins Jetzt zurückzuholen.
Während sich der Langhaarige Hannß gegenüber als Lukas Eberz vorstellte und Matteo sich von dem Faustschlag erholte, setzten sie sich zu dritt an den Tisch, an dem Matteo zuvor mit anderen Männern gesessen hatte. Weil die Feiglinge nicht eingegriffen hatten, waren sie von Hannß kurzerhand vom Tisch gejagt worden.
Als