Und hier hat sich wahrscheinlich deine leichtgläubige Mutter zu einem Aberglauben verleiten lassen.
Sie glaubte wohl, damit böse Geister von eurem Haus fernhalten zu können. Diese dummen Aberglauben sind sogar in heutigen, christlichen Zeiten leider noch weit verbreitet.
Aber in jedem Falle ist das Pentagramm kein Symbol Gottes und der Kirche, im schlimmsten Falle ist es ein Zeichen des Teufels. Also, halte dich davon fern und achte genau darauf, es nicht zu verwechseln.«
Bruder Thomas legte eine kurze Pause ein, trank einen Schluck Bier aus dem Krug, den er mitgebracht hatte, und fuhr weiter fort:
»Das Zeichen, bei welchem dein Vater wohl abfällig ›Jude‹ gesagt hat, ist dieser Sechszack. Lass mich dir erklären, welche Verbindung das Judentum mit unserem Maischbottich hat.
Dieses Zeichen ist uralt, wahrscheinlich älter als das Pentagramm. Es wurde überliefert von den Stämmen der Semiten, aus deren Reihen ja der König David hervorging.
Daher wird das Hexagramm auch Davidstern genannt. Überliefert ist ebenso, dass der Stern im Siegelring König Salomos eingeschnitten gewesen war. Die zwölf Stämme Israels werden durch die zwölf äußeren Ecken des Sterns symbolisiert.«
Niklas gähnte verstohlen, er verstand nicht, was hier so geheimnisvoll sein sollte. Er wollte keine Bibelstunde, er wollte ein großes Geheimnis erfahren – und nun dies!
»Gedulde dich noch kurz, bald wirst du den Zusammenhang verstehen«, versprach Thomas.
»Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Davidstern zum Zeichen des jüdischen Glaubens. Da die Juden bestimmte Berufe ausüben dürfen, die Christenmenschen verboten sind, ist es einfach, dies mit dem Davidstern anzuzeigen. Zu diesen Berufen gehört unter anderem, Geld gegen Zinsen zu verleihen, was guten Christenmenschen zum Glück untersagt ist. Solltest du also einmal Geld brauchen, was Gott verhüten möge, musst du lediglich nach diesem Stern suchen.«
Niklas stand die Ungeduld ins Gesicht geschrieben.
»Warte, gleich bin ich so weit«, sagte Thomas. »Das Hexagramm wird ebenfalls seit langer Zeit als Symbol gegen böse Dämonen verwendet. Dies ist natürlich genauso Aberglauben, aber immerhin keine schwarze Magie. Und damit wären wir am Ende der ersten Lektion. Die diente eigentlich nur dazu, dir zu zeigen, was das Hexagramm in der Brauerei n i c h t ist. Verstehst du?«
Niklas schüttelte enttäuscht den Kopf. Er verstand überhaupt nichts. Nicht mit einem Wort hatte Bruder Thomas ihm erklärt, wie das Zeichen in den Bottich gekommen war, und nichts von dieser Lektion hatte nach einem Geheimnis geklungen.
Thomas lachte und sagte:
»Sei nicht unglücklich, wir sind ja noch nicht fertig. Jetzt kommt der spannende Teil:
Vor etwa 400 Jahren wurde in den ersten Klöstern zum ersten Male Bier gebraut. Was diese Brüder ›Bier brauen‹ nannten, unterschied sich stark von allem, was bis dato als Bier bekannt war.
Und natürlich gab es auch damals schon gute und schlechte Brauer. Ebenso gab es Brauer, die ihr Wissen aus eigenem Antrieb erweiterten, und Brauer, die ihr Wissen lieber von anderen stahlen. Innerhalb weniger Jahre entstand ein Zirkel von Klosterbrauern, die untereinander neue Erkenntnisse, Erfahrungen und Erfindungen austauschten und die sich mit einem Eid vor dem allmächtigen Gott verpflichtet hatten, immer nur das bestmögliche Bier zu brauen und niemals Bier mit neuen Kräutern oder Wurzeln zu versetzen, ohne dass man sie vorher an der eigenen Person ausprobiert hatte.
Auf diese Weise wollte man sich von denen absondern, die Bier als vulgäres, billiges Gesöff betrachteten oder deren Bier so schlecht war, dass die Brauer eine Gefahr für die Menschen darstellten.
Und damit man erkannte, wer zum Zirkel dieser ›Reinen Brauer‹ gehört, brauchte es ein geheimes Zeichen. Aus irgendeinem Grund, frag mich bitte nicht warum, fiel die Wahl auf das Hexagramm.
Ich habe sagen hören, der Stern stehe für unsere wichtigen Brau-Elemente: Die Erde, auf der wir beim Brauen stehen, das Wasser, welches ein wichtiger Teil des Bieres ist, die Luft, die das Bier gären macht und das Feuer, das uns die Würze kocht. Die beiden anderen Zacken symbolisieren angeblich unsere beiden Rohstoffe:
Das Korn, aus dem die Essenz des Bieres kommt, und die Kräuter, beziehungsweise heute der Hopfen, der dem Bier die Würze gibt.
Ich weiß nicht, ob es stimmt. Aber an diesem Stern kannst du erkennen, ob ein Brauer unserem Ethos verpflichtet ist.
Solltest du später in deinem Leben einmal andere Brauhäuser besuchen, schau im Maischbottich nach, ob du das Hexagramm findest.«
Dann sah er Niklas mit feierlicher Miene an und nahm ihm das Gelöbnis ab, zu den ›Reinen Brauern‹ zu gehören.
»Dieser Eid bindet dich ein Leben lang.«
Niklas versprach, immer fest zu dieser Verpflichtung zu stehen, obwohl er nicht ahnen konnte, auf wie viele Proben diese Standfestigkeit in seinem weiteren Leben noch gestellt werden würde.
6
An einem Morgen Anfang März 1265 verzögerte sich das Maischen um eine Weile. In der Regel teilten sie die Arbeit so ein, dass sie beide während des Brauens eine Pause einlegen konnten, um zu Tisch zu gehen. Während Niklas noch mit dem Mörser hantierte, hatte Thomas seinen Teil der Arbeit schon erledigt.
»Ich gehe zu Tisch«, sagte er, »du kommst dann nach.«
Bis Niklas zum Essen erschien, hatten die anderen ihre Mahlzeit bereits beendet und Thomas kehrte ins Brauhaus zurück. Niklas aß allein, ging dann wieder ins Brauhaus, konnte aber Bruder Thomas nicht finden.
Niklas rief nach ihm und lief umher, um ihn zu suchen. Noch nie hatte er seine Arbeit mittendrin verlassen; das heiße Wasser hätte längst aufgegossen werden sollen! Schließlich lief er zum Maischbottich, da erblickte er ihn. Es sah aus wie ein Bild aus der Hölle!
Thomas war anscheinend auf dem Podest gestolpert und mit dem heißen Kessel in den Händen in den Bottich gefallen.
Seine Augen starrten leblos aus dem roten, verbrühten Gesicht. Von den Knien an aufwärts lag er im Bottich mit der heißen Maische, nur seine Füße ragten über den Rand. Kein Zweifel, er war tot!
Der verdrehte Oberkörper und die am Bottichrand festgekrallten Hände zeigten Niklas, dass sein tapferer Lehrmeister noch um sein Leben gekämpft hatte, bevor die Verbrühungen ihm so zugesetzt hatten, dass er aufgab.
Da das neue Brauhaus großzügig bemessen worden war, lag es etwas abseits. Bestimmt hatte Bruder Thomas nach Hilfe gebrüllt und gerade da war er, Niklas, nicht da gewesen.
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, stand er da und bemerkte, wie ihm die Tränen die Backen hinabliefen.
Er wusste nicht mehr, wie lange er so dagestanden hatte. Schließlich riss er sich zusammen und ging näher an die Leiche heran. Er überlegte, ob er sie allein aus dem Bottich ziehen könnte oder ob er Hilfe holen sollte.
Während er so davor stand und mit sich rang, betrat plötzlich Bernard von Dauerling das Brauhaus. Voller Schrecken erfasste er schnell die Situation und lief los, um Ansgar und andere Helfer herbeizuholen.
Mit vier Mann hievten sie den heißen, verbrühten Körper aus dem Bottich heraus und legten ihn auf den Boden.
»Weißt du, wie das passiert ist?«, herrschte Ansgar Niklas an. »Oder warst es am Ende du, der ihm einen heimtückischen Stoß versetzt hat? Du kannst wohl nicht schnell genug Vorsteher der Brauerei werden?«
Die älteren Männer befragten auch Bernard, ob er etwas gesehen habe, was dieser verneinte. Er gab Niklas mit der Hand ein kurzes Zeichen und grinste ihn mit seinen schiefen Zähnen an, was Niklas so verstand, dass Bernard ihm helfen wollte.
Niklas stand den Vorwürfen völlig fassungslos gegenüber. Er hätte niemals nur im Traum daran gedacht, dass ihm so etwas passieren könnte.