Zoe schreckte auf und saß nun aufrecht und schwer atmend in ihrem Bett. Sie war durchgeschwitzt und ihr war zu warm – und als sie sich die Haare aus dem Gesicht wischte, stellte sie fest, dass sie ganz nass geworden waren. Sie brauchte eine ganze Weile, um den Gedanken an Shelleys ganz und gar weiße Augen zu wieder loszuwerden. Als sie schließlich zur Seite sah, starrte sie direkt in ein weiteres, übergroßes Augenpaar. Zoe schrie auf und rutschte auf dem Bett erschrocken zur Seite, bis ihr schließlich klar wurde, dass das bloß Eulers Augen waren, der sie mit einem besorgten Schnurren beobachtete und dabei eine seiner Pfoten in die Luft reckte.
Zoe kam wieder zu Atem und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn hinterm Ohr zu kraulen und ihn damit wissen zu lassen, dass alles in Ordnung war. Ihr Herz raste zwar immer noch, aber er drehte sich daraufhin um und spazierte davon. Er hatte offenbar das Interesse an dem seltsamen Verhalten dieses Menschen verloren. Zoe zählte jeden einzelnen seiner Schritte mit, bis er aus dem Zimmer verschwunden war. Danach versuchte sie stattdessen ihre eigenen Atemzüge zu zählen und sie dabei so gut es ging zu verlangsamen.
Erholsamer Schlaf war das jedenfalls nicht gewesen. Zoe schwang die Beine aus dem Bett und als sie den kalten Boden unter den Füßen spürte, beruhigte sie dieses Gefühl ein wenig; es erinnerte sie daran, dass sie jetzt wieder in der realen Welt war und nicht mehr in einem Traum feststeckte. Oder besser gesagt in einem Albtraum. Was hatte Shelley ihr bloß sagen wollen? Zoe hatte keine Ahnung. Das war doch das Problem mit dem Unterbewusstsein – es war durchaus möglich, dass es überhaupt nichts zu sagen hatte.
Sie trabte Euler hinterher, bis in die Küche, in der Absicht, zunächst noch ein Glas Wasser zu trinken und danach duschen zu gehen. Während sie sich beim Trinken auf der Küchentheke abstütze, sah sie zum Couchtisch hinüber und bemerkte die Akte, die darauf lag. Sie beschloss, sie zu ignorieren. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt dafür, Traum hin oder her. Sie sah bewusst in eine andere Richtung und wünschte sich, Maitland hätte die Mappe gar nicht erst dagelassen.
Zoe sah an ihrem Körper herab: ein Pulli und eine Jogginghose, die nicht zusammenpassten, beide noch aus ihrer Zeit an der Uni, ausgeleiert und verwaschen. Sie hatte sich schon seit Tagen nicht mehr die Haare gewaschen. Damit konnte sie dann jetzt immerhin ein wenig Zeit totschlagen.
Doch im Badezimmer geriet sie ins Stocken, denn der Anblick ihres eigenen Gesichtes im Spiegel versetzte ihr einen Schock. Sie hatte es jetzt eine ganze Weile vermieden, in den Spiegel zu sehen, aber aus irgendeinem Grund – wahrscheinlich lag es an ihrem Traum – schaute sie sich ihr Spiegelbild diesmal an. Nun sah sie sich so, wie auch Maitland sie gesehen haben musste. Mit tiefen Augenringen unter den Augen, mit fettigem und ungekämmten Haaren, mit bleicher Haut. Sie sah fürchterlich aus.
Sie hatte es auch verdient, fürchterlich auszusehen. Schließlich hatte sie doch zugelassen, dass ihre Partnerin ermordet worden war, oder nicht? Zoe schloss die Augen für einen Moment, um den damit verbundenen Schmerz zu verdrängen. Sie wollte, dass der Schmerz aufhörte.
Dann kamen ihr Maitlands Worte wieder in den Sinn. Seine Vermutung, dass es ihr durch die Arbeit womöglich leichter fallen würde, all diese Ereignisse hinter sich zu lassen. Dass die Arbeit ihren Schmerz vielleicht ein wenig lindern würde.
Es schadete ja nicht, wenigstens einmal hineinzusehen. Dann würde Maitland nicht erneut vorbeikommen – und vielleicht würde auch ihre tote Partnerin sie dann nicht mehr im Traum heimsuchen. Zumindest konnte sie sich dann sagen, dass sie es wenigstens versucht hatte.
Bevor sie es sich wieder anders überlegen konnte, ging Zoe zum Tisch hinüber und schnappte sich die Akte. Darin waren vier Blatt Papier, jeweils zwei für jedes der zwei Opfer. Allein dadurch, diese Unterlagen in der Hand zu halten, wurde ihr übel. Aber innerlich hatte sie immer noch das Bild von Shelley aus ihrem Traum vor sich, deshalb begann Zoe, sich die Akte durchzulesen.
Sie überflog die darin enthaltenen Informationen schnellen Auges, dabei stachen einige Wörter und Sätze besonders hervor. Die Leichen waren im nördlichen Hinterland des Bundesstaates New York gefunden worden. Da durfte es zu dieser Jahreszeit ziemlich kalt sein. Es sah ganz danach aus, als wäre der Tathergang bei beiden Frauen unterschiedlich gewesen. Und auch die Frauen selbst unterschieden sich in ihren Eigenschaften. Zoe erkannte keine Parallelen in Sachen Alter, Körpergewicht- und -größe, Wohnort oder in der gewählten Mordmethode.
Aber zwischen den beiden Fällen gab es dennoch eine Verbindung, einen Grund dafür, warum man sie beide in die gleiche Akte sortiert und Zoe gemeinsam überreicht hatte. Bei beiden Opfern fand sich auf dem Bauch ein postmortal eingraviertes Symbol, allem Anschein nach war dafür eine Messerspitze verwendet worden: eine gerade Linie, die zwei rechtwinklige Beine miteinander Verband, die von ihr hinunterliefen wie Stützen. Zoe erkannte sofort, dass es dem für die Zahl Pi üblicherweise verwendeten Symbol ähnelte, auch wenn die übliche Kurve an einem der Füße etwas steifer wirkte.
Interessant. Ihr war nun klar, warum Maitland ihr die Akte dagelassen hatte. Das war genau die Art Fall, an dem sie früher gearbeitet hätte. Die Art Fall, von dem Shelley gehört und dann ihre Namen für die Ermittlungen ins Spiel gebracht hätte, wenn Maitland selbst noch nicht auf die Idee gekommen war. Zeichen und Symbole, Gleichungen, merkwürdige Hinweise, aus denen die meisten anderen Ermittler nicht schlau wurden. Das war genau ihr Ding.
Und in gewisser Weise war es nun sogar fast erfrischend, sich diese Akte anzusehen. Und damit dafür zu sorgen, dass die Zahlen diesmal an etwas arbeiteten, für das sie tatsächlich relevant waren – etwas, das sie zu ihrer Karriere gemacht hatte. Die Suche nach Verbindungen zwischen Hinweisen, um damit einen Mordfall zu lösen. Es fühlte sich gut an, von den Zahlen zur Abwechslung mit Informationen zu einem Fall überladen zu werden – und nicht bloß von den Maßen ihrer Wohnung und all der Dinge, die sich darin fanden. Es war eine Erleichterung.
Was nicht heißen sollte, dass sie den Fall tatsächlich annehmen würde – aber ihr Interesse war geweckt. Und zwar so sehr, dass sie mehr wissen wollte, selbst wenn sie dafür zu Maitland ins Büro gehen musste. Möglicherweise konnte sie die Zahlen dadurch noch ein wenig länger im Zaum halten, weil sie auf etwas anderes gelenkt werden würden. Und vielleicht würde sie sich dadurch für ein paar Minuten wieder wie sie selbst fühlen.
Aber erstmal gab es etwas noch viel Wichtigeres zu erledigen – sonst würde sie es gar nicht erst bis ins Hauptquartier schaffen.
KAPITEL VIER
Zoe sah starr geradeaus, konzentrierte sich ganz auf das Auto vor ihr. Es war bisher eine ziemlich anstrengende Fahrt gewesen. Es war kein Leichtes, sicher zu fahren, wenn man dabei nicht damit aufhören konnte, die Nummernschilder und Auspuffgase zu analysieren, die Anzahl der Fahrzeuge jeder erdenklichen Farbe und jeder Marke mitzuzählen und die Körpermaße jeder einzelnen Person, die man in einem der anderen Fahrzeuge erhaschte, zu ermitteln. Und doch hatte sie es irgendwie bis hierhin geschafft, teils dadurch, dass sie sich wie besessen darauf konzentrierte, während der ganzen Fahrt wann immer möglich die genau gleiche Geschwindigkeit beizubehalten.
Die Straße, in der sich nun befand, war ihr bestens bekannt. Zoe kannte die Gebäude hier, wusste, welche davon mehr Stockwerke hatten als die anderen, welche sich durch das Absinken des Fundamentes inzwischen um etwa fünf Grad geneigt hatten und konnte an dem Winkel, in dem das Sonnenlicht auf den Bürgersteig traf, die Uhrzeit ablesen. Sie war schon so oft hier gewesen, dass sie all diese Berechnungen schon mehrfach angestellt hatte. Und als all diese Zahlen nun erneut in ihrem Sichtfeld erschienen, war sie deshalb gerade so dazu imstande, sie zu verdrängen und sich stattdessen auf den eigentlichen Grund für ihr Herkommen zu konzentrieren.
Sie fand direkt davor einen Parkplatz, das allein war bereits ein Wunder. Zoe nahm sich einen kurzen Moment, um ihr Gesicht im Rückspiegel zu betrachten. Sie war zwar immer noch blass und hatte immer noch Augenringe, aber trotzdem sah sie immerhin ein bisschen besser aus, als noch vorhin. Zu duschen und sich etwas ordentlicher anzuziehen hatte, auf jeden Fall einen Unterschied gemacht, wenn auch nur rein äußerlich.
In ihrem Inneren sah es immer noch ganz anders aus. Das konnte man nicht mit einer einfachen Dusche wegspülen.
Irgendwie